Kiew im Informationskrieg vorn Selenskyj mobilisiert mit Charisma, Putin mit nackter Angst

Von Philipp Dahm

23.3.2022

Ginge es um einen Image-Wettbewerb, wäre das Duell Wladimir Putin gegen Wolodymyr Selenskyj schon lange entschieden: Die erste Phase des Informationskrieges geht eindeutig an die Ukraine.

Von Philipp Dahm

Wladimir Putin – persönlich mit Sanktionen belegt, international geächtet und ein Lügner, wenn man Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Grossbritanniens Ex-Premier David Cameron oder Deutschlands Aussenministerin Annalena Baerbock glauben möchte. Der Präsident der USA nennt den Russen einen «mörderischen Diktator» und «reinen Schurken» – und laut Joe Biden ist Putin auch ein «Kriegsverbrecher».

Welten liegen zwischen diesem Ruf und dem seines Gegners. Kein Vergleich zwischen dem Präsidenten Russlands und dem der Ukraine, denn Wolodymyr Selenskyj macht anscheinend alles richtig. Ihm fliegen nicht nur die Herzen der eigenen Leute zu, sondern wird im Ausland da, wo er via Video aus Kiew zugeschaltet wird, mit stehenden Ovationen gefeiert.

Der Krieg in der Ukraine ist sicherlich kein Image-Wettbewerb, doch der Vergleich deutet darauf hin, dass Russland die ersten Schlachten im Informationskrieg verloren hat. Nach haltlosen Vorwürfen an Kiew wie dem Streben nach Atomwaffen oder geheimen Biowaffen-Laboren und nicht zuletzt dem Leugnen der Kriegsplanungen an sich ist Russlands Ruf schwer und auf lange Sicht beschädigt.

Massgeschneiderte Reden von Bern bis Tokio

Wie glaubwürdig wirkt dagegen Selenskyj: Einen Tag nach Beginn des Krieges zeigt sich der 44-Jährige mit anderen wichtigen Grössen per Video in Kiew und betont, er sei nicht geflohen. «Der Präsident ist hier. Wir sind alle hier. Unsere Soldaten sind hier. Die Bewohner unseres Landes sind hier. Wir sind alle hier, um unsere Unabhängigkeit zu verteidigen.»

Nur einen Tag später schlägt Selenskyj ein US-Angebot aus, ihn zu evakuieren. «Ich brauche Munition, kein Taxi», bekundet er. Seine Video-Ansprachen an sein Volk gibt der Mann seither täglich – und dann kommen noch die Reden an das internationale Publikum, die nicht seltener sind, wie die untenstehende Bildergalerie beweist.

Dabei glänzt der Ukrainer dadurch, dass seine Worte stets massgeschneidert für sein Publikum sind. Und zugute kommt ihm auch seine Vergangenheit als Schauspieler: Das heisst nicht, dass er seine Gefühle bloss vorgibt, sondern vielmehr, dass ihm freie Rede und emotionale Ansprache leicht von der Hand gehen.

Neue Ikone der Popkultur

Selenskyj hat das Zeug zur Pop-Ikone. Das spiegelt sich nicht nur in Emmanuel Macrons Kopie seines Kleidungsstils oder in Graffiti auf den Strassen wieder, sondern auch in den Chefetagen, wenn etwa eine amerikanische Firma, die Lego-Teile individuell bemalt, eine Plastikfigur des ukrainischen Präsidenten herstellt.

Wolodymyr Selenskyj als Lego-Figur der US-Firma Citizen Brick.
Wolodymyr Selenskyj als Lego-Figur der US-Firma Citizen Brick.
Citizen Brick

1450 Exemplare à 100 Dollar werden produziert – und sind innert weniger Tage ausverkauft. So sind 145'000 Dollar zusammengekommen, die Citizen Brick spenden will. Der Westen liebt diesen Selenskyj: Obwohl er der Anführer einer Kriegspartei ist, versuchen mehrere europäische Abgeordnete vergeblich, ihn trotz abgelaufener Nominierungsfrist zum Kandidaten für den Friedensnobelpreis zu machen.

Wenn Wladimir Putin dagegen Hof hält, braucht es Druck, um das Stadion in Moskau zu füllen: Staatsangestellte wie etwa Lehrer sind angeblich dazu genötigt worden, teilzunehmen, oder wurden etwa mit einem freien Tag geködert. Das Motto am Jahrestag der Krim-Eroberung heisst: «Für eine Welt ohne Nazitum». Putin sagt, er verhindere einen Völkermord an den Donbass-Russen. Wer soll ihm das glauben?

Russlands Seite findet im Westen kaum statt

Der Auftakt des Informationskrieges ist für den Kreml auch deshalb verloren, weil Moskaus Sender im Westen vom Netz gegangen sind: Die russische Seite findet in der Berichterstattung kaum statt. Während wir Fotos von zahllosen Geflüchteten an der Grenze zu Polen serviert bekommen, sind im russischen TV die Soldaten des Kreml zu sehen, die im Donbass Zivilisten mit dem Nötigsten versorgen.

Hier gibt es Bilder, die suggerieren, die russische «Spezial-Operation» verlaufe ganz nach Plan. Dort werden Plattformen wie TikTok und Co. mit den Videos junger ukrainischer Soldaten geflutet, die posieren, erbeutete Waffen präsentieren oder mit Traktoren Panzer abtransportieren. Während sich ihre Posts via Social Media weltweit verbreiten, bleiben die Russen in ihren Telegram-Chatgruppen mehr oder weniger für sich.

Die Niederlagen im Informationskrieg haben Folgen. Zum einen sind sie ein Nackenschlag für die Moral der Angreifer, um die es ohnehin nicht gut bestellt ist. Auf der anderen Seite feuern die ukrainischen Social-Media-Posts und Erfolgsmeldungen Widerstandswillen und Durchhaltevermögen der Verteidiger an.

Wie unterschiedlich Präsidenten motivieren

Es ist vielleicht auch Wolodymyr Selenskyj zuzuschreiben, dass sich die Bürger einer Kleinstadt wie Wosnessensk beinahe bewundernswert gegen eine russische Armee zur Wehr gesetzt haben, die die örtliche Brücke über den Bug sichern wollte. Ein Team der britischen «BBC» hat nachgezeichnet, wie Landbesitzer und andere Bürger im Angesicht des Angriffs zu hoch motivierten Kämpfern werden.

In Russland hingegen drohen 15 Jahre Haft für jene, die der offiziellen Propaganda widersprechen. Zwar gibt es Priester, Künstler und gut gebildete, junge Russ*innen, die dagegenhalten, doch ob diese Worte die Landbevölkerung, die Alten und die Ungebildeten erreichen, ist fraglich.

Die Zensur von Medien wie Instagram oder Twitter macht wenig Hoffnung, dass Putins Narrativ vom Ukraine-Einsatz in Russland bald durchbrochen werden könnte.