«Schlag für Russland» Menschenrechtsorganisation Memorial aufgelöst

sda

28.12.2021 - 15:07

Basiliuskathedrale (l), das Leninmausoleum und der Spasski-Turm des Kreml am Roten Platz. 
Basiliuskathedrale (l), das Leninmausoleum und der Spasski-Turm des Kreml am Roten Platz. 
Ulf Mauder/dpa

Ungeachtet internationaler Kritik hat Russlands oberstes Gericht die international bekannte Menschenrechtsorganisation Memorial aufgelöst.

Die Entscheidung der Richterin Alla Nasarowa am Dienstag in Moskau gilt als der mit Abstand schwerste Schlag gegen die russische Menschenrechtsbewegung. Memorial hat sich seit mehr als 30 Jahren international einen Namen mit der Aufarbeitung der kommunistischen Gewaltherrschaft in der Sowjetunion gemacht. Das Urteil, das nach öffentlicher Kritik an Memorial von Kremlchef Wladimir Putin nicht überraschend kam, löste breites Entsetzen aus.

Jan Ratschinski von der Memorial-Leitung kündigte an, gegen die Entscheidung auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorzugehen. Der prominente Verteidiger Henri Resnik, der auch Mitglied des Menschenrechtsrats beim russischen Präsidenten ist, sprach von einem «gesetzeswidrigen» Richterspruch. «Aber das ist eine politische Entscheidung», sagte Resnik.

Autoritäre Tendenzen in Russland

Die Ende der 1980er-Jahre gegründete Gesellschaft beklagte bereits zu Beginn des Verfahrens, Ziel sei die «Zerstörung einer Organisation, die sich mit der Geschichte politischer Repressionen und mit dem Schutz der Menschenrechte befasst». Menschenrechtler beklagen seit Längerem zunehmende autoritäre Tendenzen und die Verfolgung Andersdenkender in Russland.

Vor dem Gericht in Moskau versammelten sich mehr als 100 Unterstützer, wie Bilder von Memorial bei Twitter zeigten. Es habe vereinzelt auch Festnahmen gegeben. Diplomaten aus 15 Ländern hätten den Prozess verfolgt, darunter Deutschland, teilte das Gericht der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti zufolge mit. Die Richterin begründete ihre Entscheidung nicht – sie folgte dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft.

Vor Gericht sagte deren Vertreter Alexej Dschafjarow, dass Memorial mit seiner Arbeit die vor 30 Jahren aufgelöste Sowjetunion als «Terrorstaat» darstelle und Lügen über das Land verbreite. Nazi-Verbrecher würden sogar rehabilitiert, behauptete er. Ähnlich hatte sich erst vor drei Wochen Putin geäussert. Er meinte, Memorial habe sich den Idealen des Humanismus verschrieben, aber in Wahrheit in die Liste von Opfern politischer Repressionen zu Sowjetzeiten auch Menschen aufgenommen, die an Morden beteiligt seien.

349 politische Gefangene

Die international geachtete Organisation setzt sich zum Ärger der russischen Führung auch für politische Gefangene in Russland ein – 349 gibt es demnach auf der Liste. Zudem deckte Memorial immer wieder Verbrechen gegen die Menschlichkeit des sowjetischen Geheimdienstes auf. Putin selbst ist ein früherer KGB-Offizier, der nach dem Zerfall der Sowjetunion auch den Inlandsgeheimdienst FSB leitete.

Die Organisation Memorial ist mehrfach zu Geldstrafen verurteilt worden, weil sie sich selbst nicht als «ausländischer Agent» bezeichnet. Ein umstrittenes Gesetz sieht vor, dass Empfänger von Zahlungen aus dem Ausland als «Agenten» bezeichnet werden können. Betroffen sind viele Menschenrechtler, aber auch Journalisten.

Das Regelwerk steht international als politisches Instrument für willkürliche Entscheidungen gegen Andersdenkende in der Kritik. Beklagt wird auch, dass jene, die sich für die Rechte von Menschen einsetzen, als Spione stigmatisiert würden. Memorial fordert seit langem die Aufhebung des Gesetzes. Die Organisation erklärte, ihre Arbeit bis zu einem rechtskräftigen Urteil fortzusetzen.

Das Team des inhaftierten Kremlgegners Alexej Nawalny erinnerte an die Ziele Memorials, die Erinnerung an die stalinistischen Repressionen zu bewahren – «damit dieser Albtraum in unserem Land nie wieder passiert. Es ist offensichtlich, dass dies jetzt nicht den Zielen des russischen Staates entspricht».

Oppositionelle oft als Extremisten eingestuft

Erst am Montag hatte ein russisches Gericht in einem international kritisierten Verfahren das Strafmass für den Menschenrechtler Juri Dmitrijew auf 15 Jahre Straflagerhaft heraufgesetzt. Der 65 Jahre alte Historiker, der auch für Memorial tätig war, hatte Verbrechen unter Sowjetdiktator Josef Stalin öffentlich gemacht.

Viele Oppositionelle, darunter Nawalnys Anhänger, sind in Russland als Extremisten von der Justiz eingestuft. Memorial sieht sich durch das Führen einer Liste zu politischen Gefangenen dem Vorwurf ausgesetzt, «das Mitwirken in terroristischen und extremistischen Organisationen» zu rechtfertigen. Das sei aber falsch – erfasst würden Menschen, die aus politischen Gründen verfolgt würden, sagte die Memorial-Juristin Tatjana Gluschkowa kürzlich.

sda