Lagebild Ukraine Russland gräbt sich im Süden ein und feiert blutige Erfolge im Donbass

Von Philipp Dahm

30.11.2022

Selenskyj: Lage an der Front weiterhin sehr schwierig

Selenskyj: Lage an der Front weiterhin sehr schwierig

Die russischen Streitkräfte versuchten, in der Region Donbass und Charkiw vorzurücken.

30.11.2022

Russlands Armee gräbt sich östlich des Dnepr ein, wie Satellitenbilder zeigen. In Donezk und Luhansk halten die schweren Kämpfe trotz hoher Verluste an. Und: Der Westen denkt über potentere Waffen für Kiew nach.

Von Philipp Dahm

Es ist kalt und grau in der Ukraine. In Cherson erreichen die Temperaturen noch maximal 4 Grad, doch zumindest fällt kein Regen. An der Front im Oblast ist es ruhig, nachdem sich die Russen über den Dnepr zurückgezogen haben.

Doch offenbar erwarten Moskaus Männer, dass der Gegner ihnen über den Fluss folgen könnte. Das belegen Auswertungen von Satellitenbildern, die zeigen, wie sich die russische Armee am östlichen Ufer eingegraben hat. Demnach sind verschiedenen Verteidigungslinien mit Feldbefestigungen und Panzersperren errichtet worden.

Russland defensiv in Cherson und offensiv in Donezk

Die vorderste Linie beginnt am Eingang zur Halbinsel Kinburn im Westen und zieht sich nahe am Dnepr-Ufer zum Nordosten fort. Im Hinterland liegen zwei weitere Linien, die zum Fluss und auf die lokalen Strassen ausgerichtet sind, analysiert das Washingtoner Institute for the Study of War (ISW).

Russische Stellungen im Oblast Cherson östlich des Dnepr.
Russische Stellungen im Oblast Cherson östlich des Dnepr.
Karte: ISW

Beide Parteien liefern sich über den Fluss hinweg Artillerie-Duelle. Haubitzen kommen auch bei Awdijiwka im Oblast Donezk zum Einsatz: Russische Truppen versuchen, südlich der Stadt entlang der Strasse M-04 nach Westen vorzurücken. Gleichzeitig rücken Soldaten nördlich von Awdijiwka an der Strasse H-20 vor. Die ukrainische Armee hat die Vorstösse nach eigenen Angaben abgewehrt.

Russische Vorstösse in der Gegend von Awdijiwka.
Russische Vorstösse in der Gegend von Awdijiwka.
Karte: Deep State Map

Weiter südlich versucht Putins Armee ebenfalls, eine gut befestigte Stadt zu umgehen und einzukesseln: Sie hat südlich von Bachmut einige Dörfer wie etwa Klischtschijiwka erobern können, ohne aber die Verbindungsstrassen T0513 und T0504 zu gefährden, weiss das ISW.

In den Schützengräben von Bachmut

Klischtschijiwka ist zwar nur wenige Kilometer von Bachmut entfernt, doch die freien Felder dazwischen bieten bei einem Angriff keine Möglichkeit, Deckung zu nehmen. Nachdem russische Soldaten im Oktober hier jedoch nur 100 bis 200 Meter pro Tag vorrücken konnten, werden auch jetzt keine schnellen Geländegewinne erwartet.

Lagebild Bachmut.
Lagebild Bachmut.
Bild: ISW

Doch zumindest kann der Kreml südlich und auch nördlich von Bachmut bei Spirne Erfolge vermelden, was der Moral der russischen Truppen nach den vielen Rückschlägen zuträglich sein dürfte. Im Video unten gibt Reporterin Lindsey Hilsum vom britischen Sender Channel 4 einen Einblick, wie es in den Gräben um Bachmut herum aussieht.

Im Nordosten im westlichen Luhansk herrscht dagegen Stillstand: Russen wollen Angriffe bei Swatowe abgewehrt haben, während die Ukraine Attacken auf Novoselivske zurückgeschlagen haben will. Der Kreml zieht hier angeblich Truppen zusammen, um eine neue Offensive zu starten, sobald das Wetter besser wird.

Ukraine holt bei der Artillerie auf

Russland versucht, in den heftigen Kämpfen in Luhansk und Donezk die Oberhand zu gewinnen, indem das Regime «Wellen von Menschen» auf das Schlachtfeld schickt, wie es Michael Clarke vom King's College in London bei Sky News ausdrückt. Die Truppen erleiden dabei laut dem Experten hohe Verluste.

Gleichzeitig nimmt die Überlegenheit der russischen Artillerie ab, will «The Drive» aus dem Pentagon erfahren haben. «Das liegt zum einen wohl an dem Bestand russischer Munition»,  wird ein anonymer Beobachter zitiert. «Und zum anderen liegt es an der ukrainischen Effektivität beim Einsatz ihrer Artillerie.»

Kritisch sei für Kiew die Versorgung mit neuer Munition. Der Westen hat der Ukraine mehr als 350 Artillerie-Systeme geliefert. Alleine die USA haben demnach dafür über 900'000 Stück 155-Millimeter-Granaten gespendet. Ein Problem war bisher der Nachschub mit Munition in den Formaten 122- und 152-Millimeter für Artillerie sowjetischer Bauart: Diese wird nun in heimischer Produktion von Ukroboronprom hergestellt, meldet Kiew.

Waffen-Update

In Sachen Waffenlieferungen gibt es zwar wenig Konkretes zu vermelden, dafür gibt es viele Diskussionen darüber, dass der Westen Kiew potenteres Gerät liefern soll. Urmas Reinsalu wird vor dem NATO-Gipfel in Bukarest diesbezüglich sehr deutlich. «Die Ukraine braucht Luftabwehr. Die Ukraine braucht Panzer», mahnt der estnische Aussenminister. «Die Ukraine braucht Raketen mit langer Reichweite.»

In den USA haben sich derweil 16 Senatoren zusammengeschlossen, um die Lieferung von Drohnen des Typs Gray Eagle MQ-1C an Kiew voranzutreiben. Bisher hat Washington gezögert, um Russland keine Chance zu geben, der Technik habhaft zu werden. Auch Verbündete haben die Gray Eagle noch nicht bekommen. Ein Ausweg könnte sein, die Drohnen vor dem Export mit älteren Komponenten zu verändern.

Eine MQ-1C Gray Eagle auf der Seoul International Aerospace and Defense Exhibition (ADEX) 2021: Heikle Systeme wie die Zielerfassung sollen nicht in russische Hände gelangen.
Eine MQ-1C Gray Eagle auf der Seoul International Aerospace and Defense Exhibition (ADEX) 2021: Heikle Systeme wie die Zielerfassung sollen nicht in russische Hände gelangen.
EPA

In Schweden fordert ein christdemokratischer Politiker, der Ukraine Kampfjets zu verkaufen. Es geht um die Saab JAS 39 Gripen. «Ich weiss, dass die Ukraine am Gripen interessiert ist, und ich sage, wir sollten es ermöglichen», wird der Parlamentarier Magnus Jakobsson zitiert.

Schweden habe zwar – wie die Schweiz – Gesetze, die den Waffenexport an Kriegsparteien verbieten. Aber: «Wir haben der Ukraine bereits Ausrüstung gegeben.» Ein Verkauf sollte daher erwägt werden.

Die NATO denkt derweil darüber nach, Kiew mit dem Luftabwehr-System Patriot zu schützen. Wladimir Putins Kettenhund Dmitro Medwedew warnt, die Systeme mit NATO-Personal würden in diesem Fall legitime russische Ziele werden.