«Ein totaler Wahnsinn»Russischer Soldat prangert Krieg an und flieht nach Frankreich
Von Lori Hinnant, AP
9.9.2022 - 04:37
Ein russischer Soldat in der Ukraine ist so aufgebracht über die Invasion, dass er desertiert. Der 34-Jährige beschreibt seine Erfahrungen und spricht von Wahnsinn. Mittlerweile hat er in Frankreich Asyl beantragt.
09.09.2022, 04:37
dpa/sob
In einem Toilettenraum auf dem Pariser Charles-de-Gaulle-Flughafen zieht Pawel Filatjew tief an seiner Zigarette, auch wenn das Rauchen hier verboten ist. Dann zerreisst der fahnenflüchtige Fallschirmjäger seinen russischen Pass und wirft ihn ins Klo – zusammen mit seinem Militärausweis. Es ist eine demonstrative Trotzhandlung – die letzte, bevor er seinem Land für immer den Rücken kehrt.
Filatjew wirft der russischen Militärführung vor, ihre eigenen Truppen in die Irre zu führen, aus schierer Inkompetenz und Korruption. Er hat seine Erfahrungen in seinem Online-Buch «ZOV» aufgezeichnet, offensichtlich in Anlehnung an die drei Buchstaben, die auf vielen russischen Transportern und Panzern zu sehen sind und auf Russisch das Wort Ruf bilden – wie in der Formulierung «Ruf zu den Waffen».
Der 34-jährige Sohn eines Soldaten sagt, dass er schon Zweifel gehabt habe, bevor seine Einheit sich an der Invasion in die Ukraine beteiligte und half, die Stadt Cherson in den ersten Kriegstagen einzunehmen. Er hat in Tschetschenien gedient, als er gerade erst seinen Teenager-Jahren entwachsen war, wusste, dass sein Gerät keinen Rost aufweisen sollte und dass seine Uniform ihn kaum vor der Winterkälte schützen würde.
Die Wahrheit verbreiten – koste es, was es wolle
Weder er noch seine Kameraden hätten eine Ahnung davon gehabt, dass sie Teil einer Invasionsstreitmacht sein würden, als man sie auf Lastwagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern beordert habe, schildert Filatjew weiter. Aber es ging ihnen nur allzu schnell auf.
Nach wochenlangen Kämpfen wurde Filatjew verletzt vom Schlachtfeld abgezogen, er verlor beinahe ein Auge und litt unter qualvollen Schmerzen im Rücken und an den Beinen. Während seiner letzten Wochen im Kampf hatte er sich selbst versprochen, dass er – sollte er die nächste Runde von Artilleriefeuer überleben – die Wahrheit verbreiten würde, koste es ihn, was es wolle.
Den grössten Teil des vergangenen Winters hatte Filatjews Einheit mit Übungen auf der 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim verbracht. Am 23. Februar, einen Tag vor Beginn der Invasion, erhielt die Truppe Munition und Papiere, die für sie wenig Sinn machten. Ganz klar war etwas im Gange.
«Wir hatten keine Ahnung»
«Aber wir hatten keine Ahnung, dass es dazu kommen würde. Wir wurden von diesen Explosionen aufgeweckt. Und zu diesem Zeitpunkt erkannten wir, dass etwas Ernstes begonnen hatte. Vielleicht ein voller Krieg», sagte Filatjew der Nachrichtenagentur AP in Paris, wo er Asyl beantragt hat. «Aber gegen wen? Und warum und wie und wofür – es war nicht klar. Das war es ungefähr, wie es für mich anfing.»
Sie erfuhren von ihrem Zielort – Cherson – erst, als sie bereits unterwegs waren, wie Filatjew weiter sagt. Bis dahin hatte er gedacht, dass es sich um einen Krieg gegen die Nato handele. Es dauerte ungefähr eine Woche, bevor ihm klar wurde, dass der einzige Feind die Ukraine war. «Und da habe ich begriffen, dass es totaler Müll und totaler Wahnsinn war.» Er habe sich nicht daran beteiligen, aber sich auch nicht vom Acker machen wollen, beschreibt er seinen damaligen Zwiespalt.
Plündern in Cherson
Cherson, da, wo der Dnipro in das Schwarze Meer fliesst, war eine der ersten Städte, die – Anfang März – in die Hände der Russen fiel. In «ZOV» beschreibt Filatjew den Tag, an dem seine Einheit die Hafenstadt betrat. Er sah nach eigenen Angaben, wie russische Soldaten Essen und elektronische Geräte plünderten und erzählt von einem chaotischen Abend, an dem seine Einheit in ein Büro einbrach und auf eine Flasche Champagner und einen Schreibtisch stiess – den er später dann als Bett benutzte. Menschenrechtsverletzungen habe er nicht gesehen, so Filatjew weiter.
Russlands bislang letzte Angaben über militärische Verluste in der Ukraine stammen vom 25. März. Damals war von 1351 Toten und 3825 Verletzten die Rede. Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace sprach diese Woche von schätzungsweise mehr als 25'000 getöteten Russen und bezifferte die Zahl der gesamten Verluste unter Einschluss von verwundeten, gefangen genommenen und desertierten Soldaten auf über 80'000.
Die ukrainischen Streitkräfte haben in dem Gebiet eine Gegenoffensive gestartet und die russischen Besatzer Pläne für ein – von der Ukraine und dem Westen verurteiltes – Referendum über einen Anschluss der Region an Russland vorläufig auf Eis gelegt.
Filatjews Schilderungen konnten nicht unabhängig verifiziert werden, aber sie entsprechen anderen Beschreibungen der Invasion, die auf der russischen Messenger-Plattform Telegram kursieren und Angaben von Angehörigen russischer Männer an der Front. Seine öffentliche Anschuldigung, dass Soldaten von ihrer eigenen Regierung betrogen wurden, ist äusserst ungewöhnlich.
Filatjew hatte «ZOV» Anfang August im russischen sozialen Netzwerk VK veröffentlicht. Die Menschenrechtsorganisation Gulagu half ihm ein paar Wochen später, das Land zu verlassen und dann – mach mehreren Zwischenstationen aus Sicherheitsgründen – Frankreich zu erreichen. Er verbrachte zwei Tage auf dem Flughafen, um auf eine Einreisegenehmigung zu warten.
«Niemand will in der Ukraine sein»
Nach seiner Schilderung geht es mit den russischen Streitkräften stetig bergab, sie seien unfähig, getötete und verletzte Soldaten zu ersetzen – oder auch jene, die einfach nicht kämpfen wollten. Und: Das Militär habe alle Standards fallen gelassen, was die Qualifikation zum Soldatendienst betreffe, wie Filatjew sagt.
«Da ist ein 50-Jähriger, der auf seiner Couch gelegen, Bier getrunken und seine Zeit damit verbracht hat, Propaganda im Fernsehen anzuschauen, und sie holen sich diese Person, stecken sie in die Fallschirmjäger(einheit), ich meine in die Elite, in unsere Gruppe. Und sie schicken ihn an die Front, ohne jede Vorbereitung.»
Filatjew spricht von einem offenen Geheimnis. Das Problem liege nicht darin, dass jeder getötet werde, wie es die Ukrainer sagten, erklärt er. «Es ist, weil niemand dort (in der Ukraine) sein will. Leider bin ich der Erste, der das laut ausspricht.»