US-Politologe «Putin hat keine Hemmungen, Menschen in sehr grosser Zahl umzubringen»

uri

20.5.2022

Selenskyj: Russische Soldaten verwandeln Donbass in «Hölle»

Selenskyj: Russische Soldaten verwandeln Donbass in «Hölle»

Mit massiven Angriffen haben die russischen Truppen den Osten der Ukraine nach den Worten von Präsident Wolodymyr Selenskyj in «die Hölle» verwandelt. «Das ist keine Übertreibung», sagte Selenskyj in einer Videobotschaft.

20.05.2022

Wladimir Putin hat sich mit seinem Angriff auf die Ukraine gründlich verrechnet. Er handelt dabei aber nicht irrational, erklärt ein Harvard-Politologe. Und er warnt, dass Putin durchaus eine Atombombe einsetzen würde – wenn er Angst um sein Leben hat.

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Egal, wie der Krieg in der Ukraine sich weiterentwickelt, bleibt die grosse Frage, wie er überhaupt beendet werden kann – denn die Atommacht Russland ist nicht zu bezwingen. Vor diesem Hintergrund erklärt der renommierte Harvard-Politologe Graham Allison im Gespräch mit dem Nachrichtendienst «Spiegel», man müsse Putin ein Angebot machen, «einen aus seiner Sicht guten Grund» geben, «den Krieg stoppen zu können».

Führende Personen im Pentagon und im Weissen Haus würden dabei vor allem über eine Frage nachdenken, so Graham: «Kann Putin diesen Krieg verlieren, und wenn die Niederlage unzweideutig ist: Kann er das überleben?» Er selbst wisse zwar nicht, zu welchem Schluss die Beamten kämen, seiner laute aber: «Nein. Ich glaube, er geht zu Recht davon aus, dass er im Fall einer eindeutigen Niederlage die Macht und wahrscheinlich auch sein Leben verlieren wird – ähnlich wie Zar Nikolaus II. im Jahr 1918.»

Putin muss ein Angebot unterbreitet werden

In diesem Fall werde Putin als jener Mann in die russische Geschichte eingehen, der die Ukraine verloren und womöglich für eine Wiederbelebung des Westens gesorgt habe. Das sei keine gute Perspektive für Putin und führe zugleich zum analytischen Kernpunkt einer Frage: «Wenn er gezwungen ist, zwischen dieser Niederlage und einer Eskalation der Gewalt und Zerstörung zu wählen, dann wird er sich, meiner Einschätzung nach, als rationaler Akteur für Letzteres entscheiden.»

«Putin hat keine Hemmungen, Menschen umzubringen, auch in sehr grosser Zahl», führt der 82-jährige Allison anhand des Beispiels Tschetschenien an. «Wenn wir ihn vor die eindeutige Alternative stellen, alles zu verlieren oder ein Risiko einzugehen, müssen wir mit dem Einsatz einer taktischen Atomwaffe rechnen». Deshalb gelte es unbedingt einen Weg zu finden, um den Krieg zu beenden – und dafür müsse man Putin ein Angebot machen.

Der russische Präsident Wladimir Putin während einer Sitzung. (Archiv)
Der russische Präsident Wladimir Putin während einer Sitzung. (Archiv)
Mikhail Tereshchenko/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

Das könne etwas sein, aus dem Putin für sich selbst und für die Russen eine Geschichte machen könne. Etwa: «Ich habe unsere Kontrolle über den Donbass konsolidiert. Wir haben jetzt eine Landbrücke zur Krim. Die Ukraine wird 15 Jahre lang kein Mitglied der Nato sein, worüber Präsident Selenskyj ja auch bereits gesprochen hat», erläutert Allison den Ansatz.

Vier Kriegsziele des Westens

Die Biden-Regierung sei zwar nicht gut darin, ihre Politik im Konfliktfall zu erklären, doch sie habe vier kohärente und zusammenhängende Kriegsziele, erklärt Allison. Erstens müsse die Ukraine als freies und unabhängiges Land bestehen bleiben – wobei unklar sei, wie viel Territorium zunächst von Russland besetzt bleibe. Das zweite Ziel sei, keinen Dritten Weltkrieg auszulösen, also dass kein Nato-Soldat einen Russen töte oder umgekehrt. Drittes Ziel sei eine entscheidende strategische Niederlage Russlands, denn die ganze Welt müsse erkennen, dass sich solch eine Invasion nicht lohne. Das vierte Ziel sei die Stärkung der globalen Sicherheitsordnung.

Man werde auch bei Erreichen dieser Ziele womöglich weiterhin mit Putin und seinen Leuten leben müssen, so wie bereits in der Geschichte mit anderen Diktatoren, «aber sie werden nicht mehr in Paris einkaufen, in London wohnen oder mit ihrer Jacht in Nizza einlaufen.»

In Bezug auf die Rufe nach schweren Waffen für die Ukraine mahnt der Politologe, der unter anderem die John F. Kennedy School of Government an der Harvard-Universität leitete und als Planungschef im Pentagon arbeitete, zur Vorsicht. Man müsse bei jedem Schritt überlegen, welche Reaktion er auslösen könne. Hier hätten die USA, Deutschland und die Verbündeten bislang aber gut reagiert: «Sie alle bewegen sich nach oben, aber sehr vorsichtig und berechnend.»

Angesprochen auf das Argument vieler Beobachter, dass es sich bei Putins nuklearen Drohungen um taktische Einschüchterungsversuche handeln würde, entgegnet der Politologe: «Es kommt vielfach von Leuten, die nicht wirklich wissen, mit welchem Risiko sie es hier zu tun haben. Es darauf ankommen zu lassen, ist nicht vernünftig.»