Bei Charkiw: Ukrainische Einheiten sollen russische Soldaten über die Grenze gedrängt haben
STORY: Posieren vor einer Grenzstele in den Farben des Landes. Ukrainische Streitkräfte haben nach Angaben der Regierung die russischen Truppen im Nordosten des Landes zurückgedrängt. Dabei hätten sie die Grenze zu Russland erreicht, so hiess es. Das Aussenministerium in Kiew veröffentlichte am Sonntag dieses Video, das ukrainische Soldaten an der Grenze zeigen soll, in der Region um Charkiw. Ein Berater des Innenministeriums gab an, die Kämpfe nahe der Stadt seien – Zitat – «unsere Gegenoffensive». Diese könnte nicht mehr gestoppt werden. «Wir drängen die Russen zurück und sie gehen zurück nach Russland. Im Norden und bei Charkiw. Sie gehen zurück, Gott sei Dank», so der ukrainische Soldat Oleksandr Juwschenko am Sonntag in Ruska Lozowa bei Charkiw. Sollte sich auch das Erreichen der Staatsgrenze bestätigen und sich die ukrainischen Truppen dort halten können, wäre das ein Hinweis auf den zunehmenden Erfolg einer ukrainischen Gegenoffensive. Seit dem Einmarsch der russischen Truppen am 24. Februar haben die ukrainischen Streitkräfte bereits eine Reihe von Erfolgen erzielt. So stoppten sie den russischen Vormarsch auf die Hauptstadt Kiew und drängten in den vergangenen beiden Wochen bei Charkiw, der zweitgrössten Stadt des Landes, rasch russische Truppen zurück.
17.05.2022
Mariupol mag fallen, doch das Momentum im Krieg ist auf Seiten der Ukraine: Trotz Truppenkonzentration im Donbas macht Putins Armee im Osten keine Fortschritte. Hier vier Szenarien für die Zukunft des Konflikts.
Es ist ein Kampf unter umgekehrten Vorzeichen. Der Krieg in der Ukraine konzentriert sich nun auf den Donbass und die Schwarzmeer-Küste. Auf der einen Seite stehen die ukrainischen Verteidiger, die sich eingegraben haben und den Gegner mit Gegenoffensiven auf Trab halten. Und dabei dürfen sie sogar noch auf Verstärkung hoffen.
Kiew hat gerade nicht nur eine neue mechanisierte Brigade mit bis zu 10'000 Soldat*innen aufgestellt, sondern diese auch noch mit neuem Material ausgerüstet. Ihr Panzer ist T-72M, den Polen beigesteuert hat. Ihr Schützenpanzer, der YPR-765, ist vor Kurzem aus den Niederlanden eingetroffen. Es dürfte nicht allzu lange dauern, bis die Brigade einsatzbereit ist – das Kriegsgerät aus Sowjet-Produktion ist in der ukrainischen Armee bekannt.
Auf der anderen Seite versucht Russland, seine Kräfte zu bündeln. Der Abzug aus dem Norden, eine verschlankte Führung und frische Kräfte sollen der Offensive Schwung verleihen. Doch Moskau hat Mühe, das Personal herbeizuschaffen: Konzertierte Anwerbe-Aktionen haben gerade mal 2500 Reservisten zutage befördert, die nun in Russland in Woronesch, Belgorod und Rostow auf die Front vorbereitet werden.
Beim Material der Kampftruppe, die laut MI6 ein Drittel an Stärke eingebüsst haben soll, ist der Wurm drin. Zu einem schlechten Grundzustand kommt eine mangelhafte Versorgung mit Ersatz und Nachschub. Während die Separatisten mit zum Teil antiquierten Waffen kämpfen, verliert die russische Armee mehrere hochmoderne T-90M-Panzer, was psychologisch dann doch eine empfindliche Niederlage darstellt.
Szenario 1: Mobilisierung und Zusammenbruch
Die Vorzeichen könnten verschiedener also nicht sein, während Experten wie etwa auch jene des österreichischen Bundesheers einen Grabenkampf wie im Ersten Weltkrieg prophezeien. Wohin soll das führen? Wie könnte sich der Waffengang im Weiteren entwickeln? Hier vier Szenarien für den Fortgang des Krieges.
Selbst nach dem Rückzug aus der Nordukraine und der Konzentration aus dem Donbass steht fest, dass Wladimir Putin eigentlich nicht genug Soldaten auf dem Schlachtfeld hat – es sind womöglich nicht einmal mehr genug, um sein Minimalziel zu erreichen, sich diese Regionen einzuverleiben. Mit dieser Truppe die Schwarzmeer-Küste einzunehmen, scheint aussichtslos.
Deswegen müsste Moskau eigentlich mobilisieren, was zwei Möglichkeiten zur Folge hätte. Szenario 1 heisst Mobilisierung und Zusammenbruch: Wenn schon jetzt die Moral der Armee im Keller ist und immer wieder Rekrutierungsbüros angegriffen werden, könnte die Zwangsrekrutierung breiter Bevölkerungsschichten dazu führen, dass mehr über den Krieg bekannt wird, sich Widerstand bildet und die militärische Kampagne dadurch schliesslich zusammenbricht.
Mobilisierung und Stalinisierung oder Sieg der Ukraine?
Andererseits ist auch Szenario 2 denkbar: Unter dem Motto Mobilisierung und Stalinisierung werden Rekruten eingezogen, während der Staat seine Repression gegen die Opposition massiv verstärkt und Deserteure gleichzeitig extrem hart bestraft, um die Truppe auf Linie zu halten. Diese Szenarien würden bedeuten, dass sich der Krieg noch weit ins nächste Jahr hineinziehen würde.
Nach den vielen Verrenkungen des Kremls in diesem Krieg ist es aber auch durchaus möglich, dass Putin weiterhin versucht, mit dem jetzt verfügbaren Militär seine Ziele zu erreichen. Würde alles weiterlaufen wie bisher, könnte etwas eintreten, mit dem am 24. Februar niemand gerechnet hätte: der militärische Sieg der Ukraine. In diesem Szenario 3 werden Kiews Truppen nach und nach den Gegner bis an die Grenze zurückdrängen.
Zur Begründung soll stellvertretend ein Vorfall vom 11. Mai am Fluss Siwerskyj Donez herangezogen werden, der anschaulich aufzeigt, worauf es einerseits in einem Grabenkampf à la Erster Weltkrieg ankommt: Eine russische Kampfgruppe will in der Ostukraine den Fluss mit einer Ponton-Brücke überqueren, um ukrainische Verbände einzuschliessen.
Szenario 4: Brutalisierung des Krieges
Die gegnerische Artillerie greift ein und könnte dabei das Gros des Bataillons zerstört haben. Der Angriff wird abgebrochen. Die Erkenntnis: Die russische Führung fällt mitunter haarsträubende Entscheidungen, wie die ungute Truppen-Konzentration vor dem Brückenkopf zeigt. Zweitens ist die ukrainische Aufklärung überlegen, und drittens hat die ukrainische Artillerie zuletzt immer wieder erstaunliche Qualität bewiesen.
Wer nun noch bedenkt, dass die Verteidiger im Begriff sind, zusätzliche moderne Artillerie aus dem Westen zu beziehen – oder sie wie im Fall der amerikanischen M777 bereits bezogen haben –, steht das Momentum auf Seiten von Kiew: Wenn alles so weitergeht, könnten die Verteidiger bis August die Wende schaffen, so die Hoffnung. Doch dass Moskau nicht gegensteuert, scheint dann doch unrealistisch.
Was bleibt Wladimir Putin noch?
Zum Beispiel Szenario 4, die Brutalisierung des Krieges, die sich bereits andeutet. Etwa in dem wahllosen Artillerie-Beschuss von Wohngegenden. Oder in dem massiven Einsatz ungelenkter Bomben und uralter Raketen aus der Sowjetzeit – wobei offenbar auch die Lenkwaffen nicht halten, was sie an Präzision versprechen.
Hier die Möglichkeiten – und dort ist nur das Leid sicher
Obwohl der Ausfall trainierter Berufssoldaten an sich nicht zu verkraften ist, kratzt der Kreml nun alle Kräfte zusammen, derer er noch habhaft werden kann. Da wären oben erwähnte 2500 Reservisten, alle Soldaten aus Syrien, die abgestellt werden können und private Sicherheitskräfte wie jene der berüchtigten Wagner Group. Die Taktik in diesem Szenario dürfte aber kaum zum Erfolg führen, den Krieg jedoch um Monate verlängern.
Wie es der Ukraine tatsächlich ergehen wird, lässt sich nicht vorhersagen: Die Szenarien zeigen aber Möglichkeiten auf, die Russlands Angriff zur Folge haben könnte. Nicht zuletzt ist natürlich auch ein Sieg der russischen Armee eine Option, wenn es eine koordinierte Grossoffensive gäbe, die die ukrainische Verteidigungslinie im Donbass aufbrechen und die Verteidiger einschliessen könnte.
Doch da Moskau keine uneingeschränkte Lufthoheit hat, weil die Aufklärung deutlich schlechter als die der Ukrainer ist und Mensch wie Material augenscheinlich nicht auf dem Level sind, die es für einen solchen Vorstoss bräuchte, scheint es ausgeschlossen, dass Putin die Oberhand gewinnen könnte. Selbst chinesische Kommentatoren halten eine russische Niederlage für ausgemacht. Darüberhinaus über einen Einsatz taktischer Atomwaffen zu spekulieren, wäre aber bloss alarmistisch.
Rechnen muss man dagegen damit, dass Europa einen blutigen Sommer erleben wird, dass im Verlauf der Monate noch viele weitere grausame Kriegsverbrechen offenkundig werden und dass der Ausfall der Nahrungsmittelexporte verheerende Auswirkungen auch in anderen Teilen der Welt haben wird.
Das Leiden, so viel ist sicher, wird weitergehen.
Ein 18-jähriger Ukrainer muss seine Geschwister durchbringen, nachdem ihre Mutter getötet worden ist. Warnung: Dieses Video von «Radio Free Europe» ist emotional belastend.