ETH-Militärökonom «Putin führt diesen Krieg ohne eine wirkliche Strategie»

tgab

3.5.2024

Russlands Präsident Wladimir Putin während einer Sitzung des Rates der Gesetzgeber Russlands im Taurischen Palast in St. Petersburg, am 26. April 2024.
Russlands Präsident Wladimir Putin während einer Sitzung des Rates der Gesetzgeber Russlands im Taurischen Palast in St. Petersburg, am 26. April 2024.
Bild: KEYSTONE

Russland verzeichnet im Osten der Ukraine Geländegewinne. Kiew erwartet eine Grossoffensive im Mai. Verliert die Ukraine den Krieg? ETH-Militärökonom Marcus Keupp relativiert die russischen Erfolge.

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die Russen verbuchen Geländegewinne und drängen die Ukrainer in die Defensive.
  • ETH-Militärökonom Marcus Keupp ist sich dennoch sicher, dass es Putin nicht gelingen wird, die Ukraine als eigenständigen Staat auszulöschen.
  • Der Knackpunkt sei die Rüstungsproduktion und der Nachschub.

Es ist der 800. Kriegstag der russischen Offensive gegen die Ukraine. Wohl kaum jemand hätte zu Beginn der Invasion am 24. Februar 2022 gedacht, dass dieser Krieg so lange dauern würde. Und gerade sieht es so aus, als sei Putin seinem Ziel, die Ukraine als eigenständigen Staat auszulöschen, ein gutes Stück näher gekommen. In den letzten Tagen hat die russische Armee mehrere Dörfer eingenommen und scheint die ukrainische Abwehr aufzubrechen.

«Aktuell erleben wir eine Phase der russischen Offensive», bestätigt ETH-Militärökonom Marcus Keupp diesen Eindruck in einem Interview mit «watson». Doch diese sei nicht nachhaltig, schiebt der Experte nach. Putin habe das gleiche Problem wie Adolf Hitler im Zweiten Weltkrieg.

Und das wäre: Die russische Produktionsrate kann nicht mithalten mit der Abnutzungsrate. «Die Russen verbrennen so ziemlich alles an Material und auch an Menschen, was sie zur Verfügung haben», sagt Keupp. Der Westen hingegen wirft seine Produktion an und stabilisiert die Logistik. Dieser Prozess hat eine Weile gedauert, aber er kommt langsam in Fahrt.

Die Materiallager der Russen leeren sich

So hat die US-Regierung der Ukraine ein milliardenschweres Militärhilfspaket für die langfristige Lieferung von Waffen zugesagt. Die ersten Pakete sind schon auf dem Weg. Auch London hat Kiew jährlich 3,5 Milliarden Franken zugesagt – und zwar so lange es nötig ist. Spanien kündigte derweil die Lieferung von Raketen für das Patriot-Luftverteidigungssystem an.

Diesem Nachschub habe Putin langfristig nichts entgegenzusetzen, sagt Keupp. Die optimistischsten Prognosen gingen derzeit davon aus, dass Russland 400 bis 500 Kampfpanzer pro Jahr produzieren könne – durch Instandsetzung älterer Modelle, nicht etwa durch Neuproduktion. Experten schätzen, dass Russland pro Tag vier bis fünf Panzer in seinem Krieg gegen die Ukraine verliert. Das wären über 1000 Stück im Jahr, also weit mehr als das Land im gleichen Zeitraum produzieren kann. 

Auf Satellitenbildern sei zu sehen, dass sich die Materiallager der Russen langsam leeren. Sogar Verteidigungsminister Sergej Schoigu selbst hat diese Woche gegenüber einer russischen Zeitung zugegeben, dass Russland seine Rüstungsproduktion dringend steigern müsse. Marcus Keupp hält den Verschleiss an Material und Personal letztlich für kriegsentscheidend – zugunsten der Ukraine.

Putin läuft die Zeit davon

Es sei denn, Putin schafft jetzt den Durchbruch, in diesem kurzen Zeitfenster, in dem die Ukraine aufgrund von Munitions- und Materialmangel geschwächt ist – nicht zuletzt dank der politischen Ränke der Republikaner in den USA, die das so dringend benötigte US-Militärhilfspaket lange blockiert hatten. Putin weiss das und versucht nun, mit allen Mitteln voranzukommen. 

Doch selbst wenn Putin weitere Geländegewinne für sich verbuchen, gar den Donbass besetzen könnte, würde er seine ursprünglichen Kriegsziele nicht erreichen, ist sich Keupp sicher. Sobald das westliche Material eingetroffen sei, würde die Ukraine sofort wieder den Kampf aufnehmen. Die Russen hätten nach Meinung des Militärexperten keine Chance, die eroberten Ziele zu halten. «Putin führt diesen Krieg ohne eine wirkliche Strategie», sagt Keupp im Interview.

«Das war auch das Problem Hitlers», sagt Keupp. «Die Amerikaner schoben im Zweiten Weltkrieg über den persischen Korridor mehr und mehr Ressourcen in die Sowjetunion rein, nach 1943 wurde Hitler immer weiter zurückgedrängt.»