Krisenland Die Misere in Venezuela macht sogar vor den Toten nicht Halt

Rodrigo Abd, AP

20.6.2019

Geplünmderte Särge liegen auf dem Friedhof El Cuadrado in Maracaibo.
Geplünmderte Särge liegen auf dem Friedhof El Cuadrado in Maracaibo.
Rodrigo Abd/AP/dpa

Die Auswüchse der massiven Versorgungskrise in Venezuela zeigen sich immer drastischer – wie etwa in der zweitgrössten Stadt Maracaibo. Ein Friedhofsverwalter kann ein trauriges Lied davon singen.

Sogar die Toten sind nicht mehr sicher vor der fortschreitenden Misere in Venezuela. Auf dem Friedhof El Cuadrado in Maracaibo sind Diebe in mehrere Grüfte eingedrungen, haben Särge aufgebrochen, Grabverzierungen gestohlen und sogar Leichen direkt beraubt. Vor acht Monaten habe das angefangen, und «sie haben sogar Goldzähne der Toten genommen», schildert José Antonio Ferrer, der Verwalter des Friedhofes, auf dem ein prominenter Arzt, ein Universitätsdirektor und andere örtliche Prominente beigesetzt sind.

In dem von einer schweren Versorgungskrise erschütterten südamerikanischen Land geht es immer sichtbarer bergab. Weite Teile Venezuelas befinden sich in einem Zustand des Verfalls, der Verwahrlosung – eine Folge des Mangels am Notwendigsten, von Nahrung und Wasser über Medizin bis hin zu Benzin und Strom. Besonders spürbar sind die Auswüchse und tagtäglichen Belastungen in der zweitgrössten Stadt Maracaibo, einem Knotenpunkt der einst boomenden Ölindustrie des Landes.

Hier hatten Einwohner im März – anscheinend getrieben von Verzweiflung über andauernde massive Stromausfälle – Hunderte von Häusern sowie Läden geplündert und zerstört. Die Behörden machten Kriminelle für die aussergewöhnlich schweren Verwüstungen verantwortlich, die in ihrem Ausmass an Zerstörungen in Kriegszonen oder durch Naturkatastrophen erinnerten. Der Verfall der ohnehin schon heruntergekommenen Stadt wurde dadurch nur noch weiter beschleunigt.



Viele verlassen die Stadt

Heute ist die Stimmung in Maracaibo weniger explosiv, es lässt sich eher so etwas wie Erschöpfung spüren. Viele von denen, die es können, verlassen die Stadt, schliessen sich dem massiven Exodus aus dem Land an. In den vergangenen Jahren haben bereits vier Millionen Venezolaner ihrer Heimat den Rücken gekehrt, um woanders ein besseres Leben zu suchen. Maracaibo liegt im Nordwesten des Landes, nahe der Grenze zu Kolumbien, das allein mehr als ein Viertel der Migranten aufgenommen hat.

Die Opposition führt Venezuelas Misere auf eine verfehlte Wirtschaftspolitik, Misswirtschaft und Korruption der sozialistischen Regierungen zunächst unter Hugo Chávez und dann unter Nicolás Maduro zurück. Präsident Maduro macht wie schon sein Vorgänger einen angeblichen Wirtschaftskrieg der USA gegen das Land verantwortlich.

Die USA und Dutzende andere Staaten halten Maduros Wiederwahl im vergangenen Jahr für unrechtmässig. Sie dringen auf seinen Rücktritt und unterstützen Oppositionsführer Juan Guaidó, der sich zum Interimspräsidenten ernannt hat.

Maracaibo mit seinen 1,5 Millionen Einwohnern ist eine Hochburg der Opposition. Guaidó hat die Stadt im April besucht. Er war gezwungen, mit einem Boot über den See Maracaibo anzureisen, um Polizeibarrikaden zu umgehen und die Scharen von Anhängern zu erreichen, die ihn erwarteten.

Bewohner der Stadt Maracaibo wühlen im Müll – auf der Suche nach Essensresten.
Bewohner der Stadt Maracaibo wühlen im Müll – auf der Suche nach Essensresten.
Bild: Rodrigo Abd/AP/dpa

Marduro denkt nicht an Rücktritt, und beim Militär hat er zumindest derzeit noch ausreichenden Rückhalt, um sich an der Macht zu halten. So bleibt denn die Situation verfahren, und das Leben in Maracaibo geht weiter, mehr schlecht als recht.

Des Wartens müde machen Fahrer auf den Dächern ihrer Autos ein Nickerchen, während sie an den Tankstellen Schlange stehen. Jemand hat auf das Rückfenster seines Taxis in weissen Buchstaben «Operación Libertad» (Operation Freiheit) Freiheit geschrieben – ein Bezug auf Guaidós Bewegung zum Sturz Maduros.

Einwohner wühlen im Müll 

Einige Einwohner wühlen in Müll, auf der Suche nach Essensresten. Andere füllen eiligst Eimer mit Wasser, wenn ein Tankwagen mit dem kostbaren Nass in ihrer Gegend anhält. Auf einem Markt bietet ein Verkäufer Fleisch feil, er muss es schnell verkaufen, denn ohne Kühlvorrichtungen hält sich Frischware in den erstickend heissen Temperaturen von Maracaibo nicht lange.

Haben einst sprudelnde Ölquellen diesem Land mit den reichsten Ölvorräten auf der Welt einen steten Geldfluss beschert, liegen jetzt betriebsunfähig gwordene Förderplattformen nutzlos im Wasser vor der Küste. Ausgetretenes Rohöl hat die Strände geschwärzt.

Es gibt einige Überbleibsel besserer Tage oder Zeichen von Bemühungen weiterzumachen, einen Weg nach vorn zu finden. Kellner im Jackett und mit Schlips tummeln sich am Tresen eines Strandrestaurants, obwohl es hier – ganz anders als früher – kaum noch Gäste gibt. Jungen vergnügen sich auf der Strasse mit einem Spielzeugauto, man hört sie fröhlich lachen. Menschen transportieren Sachen auf Schubkarren. In einem geschlossenen Vergnügungspark ragt einsam das Gerüst einer Achterbahn auf.

Ferrer, der Friedhofsverwalter, hat den Job von seinem verstorbenen Vater übernommen, der ihn wiederum von seinem Vater erbte. El Cuadradro besteht schon seit fast zwei Jahrhunderten. Wie Ferrer schildert, fanden die täglichen Begräbnisse immer vor dem späten Nachmittag statt. Aber das hat sich im Zuge schärferer Sicherheitsmassnahmen geändert: Tote werden jetzt nur noch vormittags beigesetzt – um Grabräuber abzuschrecken.


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