Merkel verteidigt ihre Russland-Politik «Werde mich nicht entschuldigen»

Von Michael Fischer, Carsten Hoffmann und Andreas Hoenig, dpa

8.6.2022 - 05:20

Ein halbes Jahr war Ex-Kanzlerin Angela Merkel weitgehend abgetaucht. Jetzt meldete sie sich zurück. Wer von ihr Reue in Sachen Russland erwartet hat, wird enttäuscht. 

Die frühere deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ihre Russland-Politik in den 16 Jahren als Regierungschefin vehement verteidigt. Eine Entschuldigung für den von vielen als zu nachsichtig gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin kritisierten Kurs lehnte sie am Dienstagabend in Berlin in ihrem ersten grossen Interview seit dem Ausscheiden aus dem Amt ab. «Also ich sehe nicht, dass ich da jetzt sagen müsste: Das war falsch, und werde deshalb auch mich nicht entschuldigen.»

Merkel hatte am 8. Dezember ihre Amtsgeschäfte an Olaf Scholz übergeben und war danach weitgehend abgetaucht. Fast genau ein halbes Jahr später kehrt sie nun auf öffentliche Bühnen zurück. Am Dienstagabend wurde sie im Berliner Ensemble, dem Brecht-Theater am Bahnhof Friedrichstrasse, vom Journalisten Alexander Osang fast 100 Minuten befragt.

«Heute geht es mir persönlich sehr gut»

Und? Wie geht es ihr jetzt? Als Bürgerin Angela Merkel? «Heute geht es mir persönlich sehr gut», sagt die 67-Jährige, die die letzten Monate mit Spaziergängen an der Ostsee, mit dem Lesen und Hören von Büchern und mit Urlaub in Italien verbracht hat.

Hört sich gut an, wäre da nicht das, was Merkel «Zäsur» und andere «Zeitenwende» nennen. «Ich bleibe natürlich auch ein politischer Mensch und deshalb bin ich in diesen Tagen so wie viele, viele andere auch manchmal bedrückt.» Gemeint ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, den der russische Präsident Wladimir Putin angezettelt hat. Die deutsche Russland-Politik der letzten zwei Jahrzehnte, die Merkel massgeblich bestimmt hat, liegt in Scherben.

Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht im Berliner Ensemble, um Fragen des Journalisten und Autors Alexander Osang zu beantworten.
Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht im Berliner Ensemble, um Fragen des Journalisten und Autors Alexander Osang zu beantworten.
Bild: Keystone

Keine Reue: Merkel steht zu ihrem Russland-Kurs

Anders als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der Anfang April öffentlich Fehler eingeräumt hat, steht Merkel aber zu ihrem Kurs. Inwieweit hat sie dazu beigetragen, eine Eskalation mit Russland zu verhindern? «Ich habe es glücklicherweise ausreichend versucht. Es ist eine grosse Trauer, dass es nicht gelungen ist», sagt sie.

Der Annexion der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim durch Russland hätte man 2014 zwar härter begegnen können. Man könne aber auch nicht sagen, dass damals nichts gemacht worden sei. Sie verwies auf den Ausschluss Russlands aus der Gruppe führender Industrienationen (G8) und den Beschluss der Nato, dass jedes Land zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben soll. Sie sei nicht «blauäugig» im Umgang mit Russland gewesen.

Auch dass sie sich 2008 gegen eine Nato-Osterweiterung um die Ukraine und Georgien gewandt habe, verteidigte Merkel. Hätte die Nato den beiden Ländern damals eine Beitrittsperspektive gegeben, hätte Putin schon damals einen «Riesenschaden in der Ukraine anrichten können», sagt sie.

Merkel will nicht mit Putin telefonieren

Merkel beklagt, dass es nach dem Mauerfall nicht gelungen sei eine Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die die jetzige Eskalation habe verhindern können. «Es ist nicht gelungen in all diesen Jahren, den Kalten Krieg wirklich zu beenden.»

Als Vermittlerin im Ukraine-Krieg sieht sich die frühere Kanzlerin nicht. Auf die Frage, ob sie mit Putin telefonieren würde, sagt sie: «Ich habe nicht den Eindruck, dass das im Augenblick etwas nützt.» Es gebe «aus meiner Sicht wenig zu besprechen».

Trotz des Kriegs und der Differenzen kann Merkel aber auch noch über frühere Begegnungen mit Putin scherzen. Zum Beispiel über das denkwürdige Treffen im Schwarzmeer-Badeort Sotschi 2007, als Putin die Kanzlerin mit seiner schwarzen Labrador-Hündin sichtlich verschreckte. «Eine tapfere Bundeskanzlerin muss mit so einem Hund fertig werden», sagt Merkel heute.

«Volles Vertrauen» in die neue Regierung

Über ihren Nachfolger verliert Merkel kein schlechtes Wort – zumindest nicht direkt. Sie habe «volles Vertrauen» in die neue Bundesregierung und Olaf Scholz, sagt sie. Es seien Menschen am Werk, die keine «Newcomer» seien und die Gegebenheiten kennen würden. Und für den Fall, dass es mal nicht so laufe, habe sie noch ihre Hebel. «Wenn jetzt etwas passieren würde (...), wo ich sage, das geht in die vollkommen falsche Richtung, dann kann ich sehr viele anrufen. Das musste ich aber noch nicht.»

Was der Kanzlerin aber gegen den Strich geht: Dass ihr nun angelastet wird, dass die Bundeswehr so heruntergewirtschaftet ist. Der Wehretat sei seit 2014 gestiegen, sagt sie. Und der SPD lastet sie an, dass die lange keine bewaffneten Drohnen anschaffen wollte.

Zitteranfälle hatten auch mit Tod ihrer Mutter zu tun

In dem Interview spricht Merkel auch über sehr persönliche Dinge. Die öffentlichen Zitteranfälle zum Beispiel, die in der Endphase ihrer Amtszeit für sehr grosse Besorgnis gesorgt hatten. Das habe zwei Gründe gehabt, sagt sie: Nach dem Tod ihrer Mutter sei sie sehr erschöpft gewesen. Ausserdem habe sie zu wenig getrunken. Nicht zuletzt habe sie dann bei militärischen Ehren Angst gehabt, dass das Zittern wieder auftrete. Deswegen habe sie sich dann bei den Zeremonien einen Stuhl auf das Podest stellen lassen, um die Nationalhymnen im Sitzen abzunehmen.

Keine «ganz normale Bürgerin»

Richtig mitmischen in der Politik will Merkel nicht mehr. «Das ist nicht meine Aufgabe, jetzt Kommentare von der Seitenlinie zu geben», sagt sie. Sie sei «Bundeskanzlerin a.D.» und eben keine «ganz normale Bürgerin». 16 Jahre lang sei alles, was irgendwie von Relevanz gewesen sei, an ihrem Tisch vorbeigekommen. Nun wolle sie sich erst einmal erholen und Abstand gewinnen.

Sie bekomme viele Einladungen, wolle aber nicht nur Termine abarbeiten. Wenn sie lese, sie mache nur noch «Wohlfühltermine», dann sage sie: «Ja.»

Von Michael Fischer, Carsten Hoffmann und Andreas Hoenig, dpa