Homosexuelle in Afghanistan «Die Taliban wollen Schwule und Lesben ausrotten»

Von Sven Hauberg

27.12.2021

Die militanten Islamisten haben mittlerweile praktisch ganz Afghanistan unter ihrer Kontrolle. Das ist insbesondere für homosexuelle Menschen lebensbedrohlich.
Die militanten Islamisten haben mittlerweile praktisch ganz Afghanistan unter ihrer Kontrolle. Das ist insbesondere für homosexuelle Menschen lebensbedrohlich.
Rahmat Gul/AP/dpa

Die Taliban haben während ihrer ersten Herrschaft Schwule und Lesben öffentlich hingerichtet. Erneut sind Homosexuelle in Afghanistan an Leib und Leben bedroht.

Von Sven Hauberg

Es war eine der ungewöhnlichsten Medienkonferenzen, die die Welt je gesehen hat. Anfang der Woche lud der Taliban-Sprecher Sabihullah Mudschahid Medienvertreterinnen und -vertreter in Kabul ein, um ihnen seine Vorstellungen von einem künftigen Afghanistan zu unterbreiten. Von Vergebung war da die Rede und auch von den Rechten der Frau.

Das Beste von 2021

Zum Jahresende bringt «Bluewin» die Lieblingsstücke des ablaufenden Jahres noch einmal. Dieser Text erschien zum ersten Mal am 21. August 2021.

Frauen sollten – in Einklang mit islamischem Recht – weiterhin an der Regierung beteiligt sein, versprach der bärtige Repräsentant der Terrororganisation. So richtig glauben wollten ihm das nur die wenigsten ausländischen Beobachter. Schliesslich waren es die Taliban, die Frauen brutal unterdrückt hatten, sie von jeglicher Bildung und dem öffentlichen Leben ausschlossen, bis sie 2001 von den USA und ihren Alliierten vertrieben wurden.

Kein Wort verlor Mudschahid zu den Rechten einer anderen Gruppe, die in Afghanistan traditionell unterdrückt wird: Schwule, Lesben, Transgender und andere Mitglieder der LGBTQ-Gemeinschaft. Was schwulen Männern in Afghanistan unter einer Herrschaft der Taliban bevorstehen könnte, erklärte hingegen unlängst ein anderer: Taliban-Richter Gul Rahim.

«Für Homosexuelle gibt es nur zwei Strafen»

Ein «Bild»-Reporter traf den Mann, der laut eigenen Angaben seit Jahren in einer Provinz in Zentral-Afghanistan «Recht» spricht. «Für Homosexuelle gibt es nur zwei Strafen», sagte Rahim dem deutschen Boulevardblatt. «Er muss gesteinigt werden, oder er muss hinter eine Mauer, und die Mauer muss auf ihn fallen. Die Mauer muss zweieinhalb oder drei Meter hoch sein.»

Bis 2001 war es eine Art grausamer Volkssport, Menschen in Fussballstadien unter den Augen Zehntausender Zuschauer hinzurichten. Auch viele Schwule fanden so den Tod. Der Schriftsteller Nemat Sadat befürchtet, dass sich die Geschichte nun wiederholen könnte. Sadat ist in den USA aufgewachsen, kehrte aber 2012 in seine Geburtsstadt Kabul zurück, um dort Politikwissenschaften an einer Universität zu unterrichten. Nachdem man ihn aufgrund seiner Homosexualität mit dem Tod bedroht hatte, verliess er das Land und engagiert sich seitdem für die Rechte von sexuellen Minderheiten.

«Viele LGBTQ-Personen, mit denen ich in Kontakt stehe, glauben, dass die Taliban Jagd auf sie machen werden», sagt Sadat zu «blue News». «Vor allem, wenn die USA und die internationale Gemeinschaft endgültig abziehen und das letzte Evakuierungsflugzeug abgeflogen ist, sodass das afghanische Volk voll und ganz der Willkür eines brutalen Regimes ausgeliefert ist, das schwört, das islamische Scharia-Recht vollständig wiederherzustellen.»

«Diese Menschen müssen wieder um ihr Leben fürchten»

Alicia Giraude von der Schweizer Sektion von Amnesty International bestätigt diese düsteren Aussichten. «Schon in den letzten Jahren gab es in Regionen, in denen die Taliban aktiv waren, Berichte über Verfolgung und körperliche Bestrafung von LBGTQ+-Personen, darunter auch die Steinigung von Homosexuellen», erklärt sie im Gespräch mit «blue News». «Das zeigt, dass diese Menschen auch heute wieder um ihr Leben fürchten müssen.»

So wurden beispielsweise im August 2015 zwei Männer und ein 17 Jahre alter Junge zum Tod durch das Umwerfen einer Mauer verurteilt – die beiden Männer starben, der Jugendliche wurde verletzt und durfte weiterleben. Menschenrechtsorganisationen und UN-Stellen berichteten in den vergangenen Jahren regelmässig von ähnlichen Gräueltaten.



Nach dem Einmarsch der westlichen Truppen galt in Afghanistan eine Mischung aus weltlichem und islamischem Recht. Laut ILGA, einem Dachverband weltweiter LGBTQ-Organisationen, war dadurch auch unter der Herrschaft der afghanischen Zivilregierung die Todesstrafe für homosexuelle Handlungen möglich. Diese wurde nicht von staatlichen Stellen ausgesprochen, aber von Scharia-Gerichten.

Ein Coming-out war für Afghaninnen und Afghanen aber auch aufgrund des gesellschaftlichen Drucks bislang quasi unmöglich. Zwar sind Männer, die in der Öffentlichkeit Händchen halten, kein seltener Anblick in dem muslimischen Land – ein Zeichen von Homosexualität ist das aber zumeist nicht. Auch Frauen sind von den gesellschaftlichen Tabus betroffen.

«Wir können nicht zulassen, dass sie LGBTQ ausrotten»

«Es gibt viele lesbische Frauen, aber sie können nicht offen darüber sprechen», erzählte eine Afghanin 2016 der BBC. «In Afghanistan gilt es als unislamisch, lesbisch zu sein. Wenn die Leute das herausfinden würden, wäre die Folge der Tod. Meine Familie darf es nie erfahren.»

Dennoch herrschte in den letzten Jahren eine gewisse Offenheit, wie sie unter den Taliban noch undenkbar gewesen war. Über Dating-Apps war es möglich, Gleichgesinnte kennenzulernen, sich zu verlieben. Die Lage für Schwule und Lesben war nie gut in Afghanistan, aber sie wurde doch ein Stückweit besser. All das ist nun vorbei, der behutsame Wandel zunichte.



«Wenn man sich ansieht, wie die Lage bis 2001 war, muss Schlimmes für die Menschenrechte befürchtet werden», sagt Alicia Giraude von Amnesty International. «Die Taliban haben andere moralische Vorstellungen, und die werden sie auch durchsetzen wollen.»

Der Schriftsteller und Aktivist Sadat fordert: «Die internationale Gemeinschaft sollte allen LGBTQ-Afghanen helfen, Afghanistan zu verlassen und sich in sicheren Ländern im Westen niederzulassen. Wir können nicht zulassen, dass die Taliban sie ausrotten. Aber genau das haben sie vor.»