Polizeigewalt #EndSars und #LekkiMassacre lassen Nigeria erbeben

Von Philipp Dahm

21.10.2020

Einen Tag nach den tödlichen Schüssen an der Mautstation von Lekki in Nigeria verhaften Polizisten mit Gewalt einen Demonstranten.
Einen Tag nach den tödlichen Schüssen an der Mautstation von Lekki in Nigeria verhaften Polizisten mit Gewalt einen Demonstranten.

Erst trendete #EndSars – die Aufforderung, eine brutale Polizeieinheit in Nigeria aufzulösen. Als Bürger trotz Ausgangssperre auf die Strasse gehen, eröffnen Polizisten in Lagos das Feuer. Es gibt viele Tote.

In den sozialen Netzwerken trendete zuletzt ein Hashtag, der eigentlich schon ein alter Hut ist: #EndSars. «Sars» hat in diesem Fall nichts mit dem Schweren akuten Atemwegssyndrom zu tun, sondern bezieht sich auf eine nigerianische Spezialeinheit der Polizei: das Special Anti-Robbery Squad.

Die Einheit wird 1992 wegen der horrenden Kriminalität in dem Land ins Leben gerufen und mit allen Befugnissen ausgestattet, um diese zu bekämpfen. Mit jener Allmacht können die Polizisten aber offenbar nicht umgehen: Mit den Jahren häufen sich die Berichte über Amtsmissbrauch, Korruption, Gewalt und Mord. Amnesty International wirft Sars vor, junge Menschen zu verschleppen, um von deren Eltern Lösegelder zu erpressen.

Nachdem immer mehr Videos die extreme Polizeigewalt belegen, greift der Menschenrechtler Segoun Awosanya den Hashtag einer Twitter-Userin auf und bringt Ende 2017 #EndSars ins Rollen. Der unten stehende Clip zeichnet sich nicht durch extreme Gewalt aus, gibt aber offenbar einen guten Eindruck von der Stimmung. Bezeichnend ist der Satz eines Polizisten: «Ich kann dich hier töten, und es kümmert niemand.»

Nach einer Petition zur Auflösung der Einheit und friedlichen Demonstrationen macht die Politik halbherzige Reformversprechen, denen keine Taten folgen. Im Gegenteil: Amnesty International allein will 82 Fälle von Misshandlungen oder Mord dokumentiert haben, die zwischen Januar 2017 und Mai 2020 von Sars-Mitgliedern begangen worden sein sollen.

Ununterbrochene Proteste seit Anfang Oktober

Ein Vorfall am 3. Oktober bringt das Fass erneut zum Überlaufen: Polizisten töten in der Stadt Ughelli einen jungen Mann, dem sie angeblich zuvor seinen Lexus SUV genommen haben. Landesweit flammen Proteste auf, die in der Hauptstadt Abuja, der 22-Millionen-Metropole Lagos und auch anderswo in Nigeria mit brutaler Härte beantwortet werden.

Inzwischen haben sich auch nigerianische Promis hinter die Protestierenden gestellt und auch der verhinderte US-Präsidentschaftkandidat Kanye West bekundet Solidarität. Selbst «The Daily Show with Trevor Noah» greift das Thema auf und berichtet, wie Jugendliche allein wegen der Marke ihrer Kleidung oder des Handys ins Visier der Sars geraten.

Elfter Protesttag in Folge: Demonstrierende in Lagos am 18. Oktober.
Elfter Protesttag in Folge: Demonstrierende in Lagos am 18. Oktober.
Bild: Keystone

«Normalerweise sind Nigerianer nur derart geeint bei einem Fussball-Länderspiel», weiss der Moderator und klärt auch gleich darüber auf, dass auch die belästigt werden, die sich an die Gesetze halten. Die «Daily Show» kann dann auch vermelden, dass die Politik wegen des öffentlichen Drucks nun Sars auflöst. Aber: «Ein Ableger ist schon in Arbeit», so Noah.

Das Problem: Die Nachfolgeeinheit Swat besteht aus denselben Mitgliedern wie Sars – nichts habe sich gerändert, erklärt der Moderator. «Das wäre, als hätte man ein Horror-Kind, das die Möbel ansteckt, und statt sich um das Problem zu kümmern, sagen die Eltern: ‹Okay, Jayden, ich habe genug. Von nun an heisst du Brian! Hier sind ein paar Zündhölzer, viel Spass damit, Problem gelöst.›»

Viele Tote bei Mautstation

Die Proteste in Nigeria halten an – und die Demonstrierenden haben nun auch Korruption und schlechte Regierungsarbeit auf der Agenda. Die Bewegung gegen Polizeigewalt weitet sich offenbar zu einem breiten sozialen Protest aus, was die Regierung bloss mit hemmungsloser Gewalt zu beantworten weiss.

In Lagos wird erneut auf Bürger geschossen, doch den grössten Zwischenfall gibt es bei der Mautstation von Lekki, wo nach unterschiedlichen Angaben zwischen 20 und 70 Menschen bei anfangs friedlichen Protesten ums Leben gekommen sind. Nach #EndSars trendet weltweit nun der Hashtag #LekkiMassacre.

Die Lage in Nigeria spitzt sich derweil weiter zu. Eine Fortsetzung folgt – leider wohl unvermeidlich.

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