Interview Lateinamerika brennt: Woher kommt all die Wut?

Von Gil Bieler

21.11.2019

Strassenschlachten in Chile und Bolivien, Venezuela taumelt von Krise zu Krise, Mexiko und Kolumbien stecken im Drogensumpf fest. Was ist bloss los in Lateinamerika? ETH-Forscher Enzo Nussio klärt auf. 

Herr Nussio, in Lateinamerika brennt gerade die Luft. Ist das eine zufällige Häufung von Krisen oder gibt es einen Zusammenhang?

Natürlich gibt es in jedem Land eine eigene Dynamik, mit spezifischen Problemen. Grosse Gemeinsamkeiten gibt es aber in jenen Ländern, in denen Protestwellen entstanden sind – wie Chile und Ecuador. Und nun kommt wahrscheinlich noch Kolumbien dazu.

Wo sehen Sie denn die Parallelen?

Es gibt überall eine sehr grosse soziale Ungleichheit, hohe Kriminalität und Korruption. Und eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass es genug Demokratie gibt, dass Demonstrationen überhaupt möglich sind. Das war in Lateinamerika auch nicht immer der Fall. Gemeinsam ist diesen Ländern ausserdem, dass es eine wachsende Mittelklasse gibt, die auch wachsende Erwartungen an die Regierung hat – mit der die Realität aber nicht Schritt halten kann. Das ist der Hintergrund dieser Protestwellen in diversen Ländern.

Chile: Das Fass ist übergelaufen

Gehen wir zunächst auf Chile ein: Der Volkszorn entzündete sich dort an einer Preiserhöhung für die U-Bahn. Kam dieser Protest aus dem Nichts?

Nein, in Chile kam es immer wieder zu Protesten. Vor allem Studenten haben für eine bessere öffentliche Bildung protestiert. Chile hat in den letzten Jahren zwar grosse Fortschritte gemacht und gilt allgemein als Vorzeigebeispiel, aber es gibt immer noch eine sehr grosse Ungleichheit in der Gesellschaft. Gerade die öffentlichen Güter – wie Bildung oder ÖV – sind von ungenügender Qualität, was für viele Menschen ein grosses Problem ist. Daher konnte so ein kleiner Auslöser das Fass zum Überlaufen bringen und hat die allgemeine Unzufriedenheit zum Vorschein gebracht.



Weshalb ging denn die Kluft überhaupt so weit auseinander?

Das ist ein altes Thema und betrifft fast alle Länder in Lateinamerika: Es gibt soziale Klassen und eine kleine Oberschicht, die die grösste wirtschaftliche und politische Macht hat. Das zu ändern, ist sehr schwierig, denn dafür bräuchte es grosse Reformen und eine Umverteilung. Und wahrscheinlich wären nicht einmal jene Leute, die jetzt in die Mittelklasse aufsteigen, dazu bereit, diese Reformen mitzutragen.

Woran liegt das?

Vor allem fehlt ihnen das Vertrauen in den Staat. Sobald sie zum Beispiel die Möglichkeit haben, ihre Kinder in eine Privatschule zu tun, machen sie das auch. Dazu, die Qualität der öffentlichen Schulen über mehr Steuerabgaben zu erhöhen, sind sie nicht bereit. So wird der Bildungssektor privatisiert. Dasselbe gilt in vielen Ländern – in Chile jetzt weniger –, auch für den Sicherheitssektor: Die Menschen vertrauen der Polizei nicht, was dazu führt, dass sie private Sicherheitsfirmen engagieren. Das wiederum führt zu einem Rückzug des Staates. Ein Teufelskreis kommt in Gang, der es umso schwieriger macht, die soziale Ungleichheit abzubauen.



Venezuela: Keine einfache Lösung in Sicht

Kommen wir auf Venezuela zu sprechen: Dort hangelt sich Staatschef Nicolás Maduro von Krise zu Krise. Was macht er denn so viel schlechter als sein Vorgänger Hugo Chávez?

Er macht sicher eine ähnliche Politik. Der Fokus von Maduro liegt wie schon bei Chávez auf den Themen Ungleichheit und Armut. Die Ungleichheit wurde unter beiden Präsidenten auch tatsächlich abgebaut. Politisch gesehen, war das eine regelrechte Revolution. Aber wie bereits gesagt: Es ist wichtig, Reformen einzuleiten und Reichtum umzuverteilen, doch wenn man das auf eine so autoritäre und schnelle Art wie die Chavistas macht, hängt man viele Bürger ab und produziert Konflikte in der Gesellschaft. Genau das ist nun passiert und hat zu Gewalt, sozialen Spannungen und Massenflucht geführt.

Auch die wirtschaftliche Situation ist nicht gerade rosig.

Genau. Bereits zum Ende der Chávez-Regierung ist der Ölpreis stark gefallen, womit jetzt auch Maduro zu kämpfen hat. Darum gibt es nun zwar weniger Ungleichheit, aber viel mehr Armut in Venezuela.



Maduro ist massiv in der Kritik: Wie hält er sich überhaupt an der Macht?

Man darf nicht unterschätzen, dass ein grosser Teil der Bevölkerung immer noch hinter dem Präsidenten steht – weil gerade die Armen gesehen haben, dass sich diese Regierung für sie einsetzt. Ausserdem sind viele Regierungsgegner bereits ausgewandert – über vier Millionen Menschen haben das Land verlassen. Das heisst: Die politische Lage ist nicht so eindeutig. Wenn heute gewählt würde, wäre nicht so klar, welches Lager gewinnen würde. Wenn man dem Abstimmungsresultat überhaupt Glauben schenken könnte. Solange das Militär Maduro stützt, hat die Opposition wenig Chancen, einen Wandel herbeizuführen.

Wie könnte das Land Weg aus der Krise finden?

Ich sehe keine einfache Lösung. Damit sich die Situation für die Menschen verbessert, braucht es einen politischen Wandel hin zu einem Dialog. Das Problem ist, dass die Regierung der Opposition bei früheren Versuchen nie wirklich ein Mitspracherecht eingeräumt hat. Wahrscheinlicher ist aber, dass der Wandel durch einen Bruch herbeigeführt wird – der mit Gewalt einhergeht.



Kolumbien: Bald auch hier Massenproteste?

Die meisten Venezolaner sind nach Kolumbien geflohen. Wie kommt das Land mit diesem Ansturm zurecht?

Das muss man sich vorstellen: Über eine Million Menschen ist innert kurzer Zeit nach Kolumbien geströmt. Das ist eine enorme Herausforderung für das Land und hat auch schon zu Problemen geführt. Die meisten Venezolaner arbeiten in Kolumbien inoffiziell, erledigen ganz einfache Tätigkeiten oder verkaufen etwas auf der Strasse, viele betteln auch. Ausserdem hat die Fremdenfeindlichkeit gegenüber Venezolanern zugenommen.

In Kolumbien sind heute Donnerstag ebenfalls grosse Proteste angekündigt. Worum geht es da?

Das ist ähnlich wie in Ecuador und Chile: Es gibt eine generelle Unzufriedenheit. Speziell kommt in Kolumbien das Thema des Friedensabkommens mit den Farc-Rebellen hinzu. Viele Leute sind unzufrieden, weil die Regierung den Friedensprozess ihrer Meinung nach zu wenig voranbringt. Und nachdem sie gesehen haben, dass die Protestbewegungen in Chile und Ecuador Erfolge getätigt haben, wollen sie das nun auch in Kolumbien erreichen.

Was war schon wieder in Ecuador los?

Dort ist seit 2017 die Regierung von Präsident Lenín Moreno im Amt. Er war davor Vizepräsident unter Rafael Correa und hätte eigentlich dessen sozialistische Politik weiterführen sollen, hat aber einen neoliberalen Schwenker eingelegt, was ihn enorm viel Popularität gekostet hat. Die Aufhebung von Subventionen für Benzin hat dann das Fass zum Überlaufen gebracht und zu massiven Protesten der breiten Bevölkerung geführt. Am Ende musste die Regierung einlenken und die Subventionen wieder einführen.



Und das inspiriert nun die Kolumbianer.

Ja, es dürfte einen massiven Aufstand geben von Leuten mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und Motiven. Das macht es entsprechend schwierig, diese Unzufriedenheit in Reformen zu giessen, da es keinen klaren Konsens gibt.

Bolivien: Wie Morales den Goodwill verspielt hat

Kommen wir noch auf Bolivien zu sprechen. Dort musste Präsident Evo Morales überstürzt zurücktreten – respektive er wurde gestürzt, je nach Lesart. Hat er sich zu lange an die Macht geklammert?

Das ist sicherlich der Hauptgrund, weshalb er nun abtreten musste. Er war ja sehr lange ein überaus beliebter Präsident, was eine Seltenheit ist in Lateinamerika. Und er hat die Mehrheit der Bevölkerung vertreten, nämlich die indigene Bevölkerung. Aber zugleich hatte er einen sehr personalistischen Stil und dachte wohl, es hänge alles allein von ihm ab. Er hat es nicht geschafft, die Macht weiterzugeben.

Zur Person
Bild: zVg

Dr. Enzo Nussio ist Forscher am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich, wo schweizerische und internationale Sicherheitspolitik im Fokus steht. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist Lateinamerika. Nussio hat zuvor mehrere Jahre in Kolumbien gelebt und an Universitäten in Bogotá gearbeitet.

Die Unzufriedenheit bei den Gegnern von Morales ist übrigens nicht neu. Die reiche Elite war schon seit seinem Amtsantritt gegen ihn. Aber nun haben sie mehr Zuspruch erhalten, weil sein Anspruch auf die Macht in den letzten Jahren an Legitimität verloren hat, da er die Verfassung zu lax ausgelegt hat.

Ist es generell ein Problem in lateinamerikanischen Ländern, rechtzeitig einen Nachfolger aufzubauen?

Es ist natürlich nicht überall gleich. Aber in vielen Ländern fehlt es dem Staat am Zuspruch der Bevölkerung und dem Vertrauen. Eine charismatische Persönlichkeit kann das teilweise kompensieren und einen Draht zur Bevölkerung herstellen. Diese Legitimität auf eine andere Person zu übertragen, ist dann aber schwierig – vor allem, da Politik in Lateinamerika sehr personalisiert funktioniert.



Mexiko: Ein gescheiterter Staat?

Zu Mexiko: Dort mussten die Streitkräfte die Verhaftung eines ranghohen Drogenkartell-Mitglieds stoppen, weil die Gangster sich mit heftiger Waffengewalt wehrten. Ist Mexiko ein ‹failed state›, ein gescheiterter Staat?

Das würde ich nicht sagen. Ich bin ohnehin kein Freund des Begriffes ‹failed state›, und Mexiko ist bestimmt kein schwacher Staat. Es gibt starke Institutionen, aber eine grosse Herausforderung – die Drogenkartelle. Diese haben eine solche Macht angehäuft, dass es für den Staat schwierig geworden ist, dagegen vorzugehen. Das zeugt meiner Meinung nach nicht von einem gescheiterten Staat, sondern zeigt auf, wie viel Geld und Ressourcen die Drogenkartelle zur Verfügung haben.

Das sieht man ja auch an der Mafia in Italien: Das organisierte Verbrechen lässt sich nicht vollständig auslöschen, solange nicht auch dessen Einnahmequellen versiegen. Diese Verbrecher zurückzudrängen, ist ein sehr langer Prozess – sie nisten sich ja auch in der Politik und der Gesellschaft ein. Das geht nicht von einem Tag auf den anderen. Und in vielen anderen Bereichen funktioniert der mexikanische Staat gut für lateinamerikanische Verhältnisse.



US-Präsident Donald Trump hat Mexiko angeboten, Truppen für den Kampf gegen die Kartelle zu schicken. Braucht Mexiko vielleicht wirklich Hilfe von aussen?

Es kann schon sein, dass zusätzliche Hilfe nützlich wäre. Was Donald Trump aber sonst noch machen könnte, wäre, dafür zu sorgen, dass keine Waffen mehr von den USA nach Mexiko gelangen. In Mexiko sind die Waffengesetze strikter. Aber so oder so bleibt der Kampf gegen die Drogenkartelle ein langer Prozess, den man nicht mit einer Hauruck-Übung lösen kann.

Kolumbien, so scheint es zumindest, hat das Problem der Drogenkriminalität aber in den Griff bekommen, oder?

Der Eindruck täuscht. Es gibt immer noch sehr viel Gewalt, die mit dem Drogengeschäft zusammenhängt. Kolumbien ist immer noch der grösste Kokainproduzent, und die Coca-Plantagen sind so gross wie fast noch nie. Bloss läuft der Drogenhandel nun mit etwas weniger Gewalt ab als früher, und die Organisationen sind weniger sichtbar. Das liegt auch daran, dass Polizei und Militär sich darauf spezialisiert haben, Drogenkartelle zu zerschlagen. Darum kann es heute keinen Pablo Escobar mehr geben in Kolumbien – der würde relativ schnell geschnappt werden.

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