Sorge um SaporischschjaMoskau und Kiew warnen vor Anschlag auf Europas grösstes AKW
DPA, red.
5.7.2023 - 17:54
Saporischschja: Sorgen um Anschlag auf Europas grösstes Atomkraftwerk
Die Ukraine und Russland beschuldigen sich gegenseitig, Angriffe zu planen, die eine nukleare Katastrophe auslösen könnten. Im Fokus steht dabei Europas grösstes Kernkraftwerk Saporischschja.
05.07.2023
Mitten im ukrainischen Kriegsgebiet steht Europas grösstes Atomkraftwerk. Jetzt spitzt sich die Lage zu: Moskau und Kiew beschuldigen sich gegenseitig, einen Anschlag zu planen.
05.07.2023, 17:54
DPA, red.
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Moskau und Kiew bezichtigen sich gegenseitig eines angeblich unmittelbar bevorstehenden Anschlags das AKW Saporischschja im Süden der Ukraine.
Moskau wirft Kiew vor, das Atomkraftwerk mit Raketen und Kamikaze-Drohnen angreifen zu wollen.
Kiew dagegen sagt, Moskau plane einen Angriff, um den Kriegsverlauf zu seinen Gunsten zu verändern.
Ein Experte bezweifelt dagegen, dass die Ukraine die militärischen Fähigkeiten hätte, das AKW von aussen zu sprengen.
Steht ein unmittelbarer Anschlag auf grösste AKW Europas bevor? Glaubt man den Regierungen in Kiew und Moskau, droht diese erschreckende Vorstellung tatsächlich wahr zu werden – wobei jeweils die Gegenseite eines Anschlags verdächtigt wird.
Das Atomkraftwerk Saporischschja – mit einer Leistung von 6000 Megawatt das grösste in Europa – steht bereits seit Anfang März 2022 unter russischer Kontrolle. Alle sechs Reaktoren sind aus Sicherheitsbedenken im September heruntergefahren worden.
Nun hat der Kreml die Lage um das besetzte ukrainische Atomkraftwerk als «ziemlich angespannt» bezeichnet: «Die Gefahr einer Sabotage vonseiten des Kiewer Regimes ist gross, was von den Folgen her katastrophal sein kann», sagte der Sprecher der russischen Regierung, Dmitri Peskow, der russischen Nachrichtenagentur Interfax zufolge.
Moskau warf Kiew konkret vor, das Atomkraftwerk mit Raketen und Kamikaze-Drohnen angreifen zu wollen, um einen atomaren Unfall zu verursachen. Russland werde aber alle Massnahmen ergreifen, um einer solchen Gefahr entgegenzuwirken.
Warnung vor «absolut rücksichtslosen» Russen
Dagegen hatte die Ukraine Russland zum wiederholten Male vorgeworfen, Sprengsätze in das AKW Saporischschja zu verlegen. Kiew warnt immer wieder vor einem angeblich von Russland vorbereiteten Terroranschlag auf das AKW.
Die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maliar warnte, Moskau sei zu «absolut rücksichtslosen Aktionen» fähig. Die Russen könnten dann versuchen, das als Sabotageakte der Ukraine in die Schuhe zu schieben.
Russland könnte die Anlage angreifen, um die Dynamik des Kriegsverlaufs zu seinen Gunsten zu wenden und «seine militärischen Ziele zu erreichen», warnte Maliar am Mittwoch, wie der Nachrichtensender CNN berichtet.
Ihren Ausführungen zufolge seien die ukrainischen Behörden aber auf einen russischen Angriff auf das AKW vorbereitet: In vier ukrainischen Regionen hätten die Rettungsdienste mehrere Tage lang trainiert, wie sich die Folgen eines AKW-Anschlags bewältigen liessen.
Ganz ähnlich äusserte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner jüngsten Videoansprache in der Nacht auf Mittwoch: «Wir haben jetzt von unserem Geheimdienst die Information, dass das russische Militär auf den Dächern mehrerer Reaktorblöcke des AKW Saporischschja Gegenstände platziert hat, die Sprengstoff ähneln», sagte er. Selenskyj forderte internationalen Druck auf Russland, um das zu verhindern.
Experte: Ukraine könnte AKW nicht von aussen sprengen
Einem Experten zufolge hat die Ukraine nicht die militärischen Fähigkeiten, das Atomkraftwerk von aussen zu sprengen. Carlo Masala, Politikwissenschaftler an der Universität der deutschen Bundeswehr in München, sagte der Nachrichtenagentur DPA, eine solche Sprengung wäre «extrem kompliziert».
«Ein AKW von Aussen zu sprengen ist extrem schwierig und dazu haben die Ukrainer nicht die Kapazitäten», sagte Masala. «Wenn sie die hätten, bräuchten sie so lange, dass sie leichte Opfer für die russische Luftabwehr wären», fügte er hinzu. Die Anschuldigungen von russischer Seite seien daher sehr unrealistisch.
Zu möglichen Motiven einer Sabotage des Kraftwerks durch Moskau sagte er: «Es ist wie mit der Sprengung des Staudamms. Politik der verbrannten Erde – das ist die Logik dahinter.» Im Juni wurde der Kachowka-Staudamm in der Südukraine zerstört, viele Experten gehen von einer Sprengung durch russische Kräfte aus.
Wie wahrscheinlich eine Sprengung des Atomkraftwerks sei, könne keiner sagen, so Masala. «Es ist nur auffällig, dass, wenn die Russische Föderation anfängt, die Ukrainer und den Westen zu beschuldigen, irgendwelche Anschläge zu planen, dies meistens die Vorbereitung für eigene Aktionen ist.» Daraus könne jedoch nicht abgeleitet werden, dass eine Sprengung von Saporischschja unmittelbar bevorsteht, schränkte er ein.
Kiew äussert Unmut über Grossi
Der Chef der Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) muss sich derweil heftige Kritik aus Kiew anhören. Mit Blick auf Rafael Grossi sagte der Berater des Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak: «Dieser Mensch ist absolut unwirksam beim Management des Schlüsselrisikos.» Die IAEA habe «klare Einflusshebel» auf Russland, sagte er in der Nacht auf Mittwoch im ukrainischen Nachrichtenfernsehen. Mit Druck auf den staatlichen Atomkonzern Rosatom hätte man einen Abzug der Russen und eine Minenräumung erzwingen können, argumentierte er.
Podoljak sprach dabei von einer «Clownerie» und bezeichnete Grossi als «dieser Mensch» und «das Subjekt Grossi». Die vor knapp einem Monat gestartete ukrainische Gegenoffensive hat auch eine Rückeroberung des Kraftwerks Saporischschja zum Ziel.
IAEA-Chef warnt vor «prekärer nuklearer Sicherheitslage»
Laut IAEA hat das AKW Saporischschja erneut den Anschluss an seine externe Hauptstromleitung verloren. Das Atomkraftwerk sei daher auf die erst kürzlich wiederhergestellte Ersatzversorgung durch eine weniger leistungsstarke Leitung angewiesen, erklärte Grossi in Wien.
Die einzige verbliebene 750-Kilovolt-Stromleitung – von vier vor dem Konflikt verfügbaren – sei am Dienstag um 01:21 Uhr (Ortszeit) unterbrochen worden. «Es war nicht sofort bekannt, was den Stromausfall verursacht hat und wie lange er dauert», so die IAEA weiter. Der Strom werde beispielsweise zum Pumpen von Kühlwasser für die Anlage benötigt.
«Diesmal konnte das Kraftwerk einen völligen Ausfall der gesamten externen Stromversorgung vermeiden – was bereits sieben Mal während des Konflikts vorgekommen ist –, aber die jüngste Stromleitungsunterbrechung verdeutlicht erneut die prekäre nukleare Sicherheitslage im Kraftwerk», so Grossi.