Folgen der Krim-Attacke Kiews neue Angriffslust zwingt Russland in die Defensive

Von Andreas Fischer

12.8.2022

Die Ukraine verwüstet offenbar eine russische Luftwaffenbasis auf der Krim. Von einer Wende im Krieg wollen Militäranalysten der ETH Zürich trotz des spektakulären Schlags nicht sprechen.

Von Andreas Fischer

Eine Drohnenattacke gegen die russische Schwarzmeerflotte und ein Angriff auf den Luftwaffenstützpunkt Saki nahe dem Kurort Nowofjodorowka: Die von Russland annektierte Halbinsel Krim ist innert weniger Tage zu einem Schauplatz im Krieg gegen die Ukraine geworden.

Vor allem der Zwischenfall in Saki wirft Fragen auf. Zum Beispiel: Wie gut Moskau die militärisch hochgerüstete Halbinsel tatsächlich schützen kann. Oder ob die Ukraine mit neuen Waffen in der Lage ist, die lange angekündigte Gegenoffensive im Süden des Landes zu starten. Und nicht zuletzt, ob die Ukraine nun gar versucht, die Krim mit militärischer Gewalt zurückzuholen.

Der Militäranalyst Niklas Masuhr und der Strategieexperte Marcel Berni von der ETH Zürich erklären bei blue News, was der Angriff auf die Krim wirklich zu bedeuten hat – und ob er eine Wende im Krieg einläutet.

Angriff auf Russlands Selbstverständnis

Auch wenn die Umstände der Explosionen auf dem russischen Stützpunkt in Saki nach wie vor unklar sind: Kiew zeigt neues Selbstvertrauen. Der Krim-Beschuss sei «erst der Anfang», sagte ein Berater von Wolodymyr Selenskyj. Sicher ist, dass Moskau mit dem Angriff einen Rückschlag im Krieg erlitten hat.

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Militäranalyst Niklas Masuhr von der ETH Zürich im Gespräch mit blue News: «Der Angriff zeigt, dass die Ukrainer jetzt in der Lage sind, den zuvor sicher geglaubten russischen Rückraum zu treffen und russische Luftverteidigungen zu durchdringen.»

Wobei für Masuhr noch offen ist, wie dieses Durchdringen erreicht wurde. «Die Krim galt seit 2014 als Anti-Access/Area Denial-(A2/AD)-Festung», so der Analyst. Es sei angenommen worden, «dass Russland mit Luftabwehr- und Antiseezielkomplexen das Schwarze Meer ‹sperren› könnte». Das sei laut Masuhr zwar immer übertrieben gewesen, aber es sind einige der modernsten Luftabwehrsysteme vom Typ S-400 Triumf dort stationiert.

«Diese konnten die Basis jedoch offensichtlich nicht schützen», so Masuhr – und das könnte Auswirkungen auf den weiteren Kriegsverlauf haben. «Die Krim war zuvor als signifikante Logistikbasis der russischen Truppen genutzt worden, die militärische Erfolge im Süden ermöglicht hatte. Jetzt ist auch beispielsweise Infrastruktur wie die symbolträchtige Kertschbrücke nominell bedroht», schätzt Masuhr ein.

Das Hinterland ist nicht mehr sicher

«Das ist die grosse Veränderung der letzten Kriegswochen. Lange konnte das russische Militär auf dem okkupierten ukrainischen Gebiet eigene Truppen relativ sicher verschieben und den Nachschub an die Frontlinien organisieren», erklärt auch Marcel Berni, Strategieexperte der Militärakademie an der ETH Zürich, blue News. «Jetzt wird diese Stärke durch unberechenbare ukrainische Nadelstiche immer stärker in Mitleidenschaft gezogen. Hinzu kommt die psychologische Verunsicherung der Truppe, aber auch der Zivilbevölkerung, auch im sogenannten Hinterland nicht länger sicher zu sein.»

Auch auf der politischen Ebene hat der Schlag gegen den russischen Stützpunkt auf der Krim eine starke Symbolwirkung, wie Berni erläutert. «Politisch zeigt Selenskyj mit dem Angriff, dass ihm die Krim nicht entgangen ist, und dass er auch die Gebiete, die Russland 2014 annektiert hat, militärisch zurückerobern will.»

Rauchsäule über dem Krim-Strand: Moskau spricht im Zusammenhang mit den Explosionen auf einer Luftwaffenbasis von einem Unfall – doch es spricht viel für einen ukrainischen Angriff.
Rauchsäule über dem Krim-Strand: Moskau spricht im Zusammenhang mit den Explosionen auf einer Luftwaffenbasis von einem Unfall – doch es spricht viel für einen ukrainischen Angriff.
Uncredited/Anonymous/AP/dpa

«Der Krieg wird auf der Krim enden»

Kiews neue Angriffslust liege laut Berni unter anderem darin begründet, dass die neuen Waffen aus dem Westen der Ukraine grössere Reichweite geben. «Auf der anderen Seite geht es Kiew aber auch darum, die innen- und aussenpolitische Unterstützung aufrechtzuerhalten. Dafür braucht es Erfolge. Diese wurden möglich durch die geschickte Ausnutzung russischer Schwächen und durch gute Geländekenntnisse.»

Am Tag nach dem Angriff auf Saki hat der ukrainische Präsident Selenskyj die Bewohner der von Russland besetzten Gebiete zum Widerstand aufgefordert und erwartet, dass die russischen Besatzer bald die Flucht ergreifen. «Sie haben bereits das Gefühl, dass die Zeit gekommen ist, aus Cherson und im Allgemeinen aus dem Süden unseres Landes zu fliehen. Es wird eine Zeit geben, in der sie aus dem Gebiet Charkiw, aus dem Donbass und von der Krim fliehen werden.»

Der Krieg habe laut Selenskyj mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 begonnen. Er müsse mit der Befreiung der Halbinsel enden.

Selenskyj: «Wir werden die Krim niemals aufgeben»

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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat bekräftigt, dass er die von Russland annektierte Halbinsel Krim als ukrainisch betrachtet. Die Ukraine werde die Krim «niemals aufgeben», sagte er in einer Videobotschaft.

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Der Schaden ist gross

Für Russland wird es nach dem Angriff auf Saki militärisch auf jeden Fall schwieriger. Die Schäden sind beträchtlich, schätzt Niklas Masuhr ein: «Laut Open-Source-Intelligence-Accounts (Informationen aus frei verfügbaren, offenen Quellen, d. Red.), denen ich traue, sind scheinbar fünf Su-30SM Mehrzweckkampfflugzeuge und bis zu sechs Su-24M/MR taktische Bomber/Aufklärer zerstört oder schwer beschädigt worden. Darüber hinaus wohl eine hohe Anzahl Personal und Ausrüstung, möglicherweise inklusive schwer zu ersetzender Piloten.»

Derweil behauptet Moskau weiterhin, die Explosionen auf dem Luftwaffenstützpunkt in Saki seien ein Unfall, der auf einen Verstoss gegen Brandschutzbestimmungen zurückzuführen sei. Dass Russland offiziell einen ukrainischen Angriff ausschliesst, habe einen einfachen Grund, erläutert Marcel Berni: «Der Angriff auf Saki hat Moskau überrascht, es will nun keine Schwäche eingestehen und stellt den spektakulären Angriff als einen lapidaren Unfall dar, ähnlich wie damals bei der Versenkung der Moskwa. Ich halte das russische Narrativ für unglaubwürdig, es geht hierbei vor allem darum, keine Schwäche auf der symbolisch wichtigen Halbinsel einzugestehen.»

Niklas Masuhr ergänzt: «Der Angriff zeigt, dass sicher geglaubte, sensible Einrichtungen nun unter Feuer geraten können. Wie ‹wiederholbar› der Schlag ist, ist zu diesem Zeitpunkt weniger relevant als der Beweis, dass er möglich ist.» Russische militärische Planungen müssten diese Möglichkeit nunmehr in Betracht ziehen.

Russland wird verunsichert

Für Masuhr ist noch nicht bewiesen, dass die Ukraine wirklich über Waffen mit grosser Reichweite von bis zu 300 Kilometer verfügt. Beim Angriff auf die russische Krim-Basis «fiel der erste Verdacht natürlich auf ballistische Raketen vom Typ MGM-140 ATACMS, die Kiew von den USA fordert». Allerdings sei noch unklar, welcher Sprengkörper die Detonationen verursacht habe. «Aktuell am wahrscheinlichsten erscheint ein Schlag mit Loitering Munition (ferngesteuerte Präzisionsmunition, d. Red.) auf Munitionsdepots.»

Die Waffen selbst seien eher nicht aus 300 Kilometern abgefeuert worden, sondern «möglicherweise sogar aus der Umgebung der Basis», schätzt Masuhr ein. «Die Ukraine hat zuvor solche Schläge in die Tiefe mit Kampfhubschraubern und Drohnen durchgeführt – auch ohne dezidierte Systeme wie ATACMS zu haben.»

Für Berni entspricht es «dem ukrainischen Kalkül, nicht offenzulegen, mit welchen Mitteln der Angriff verursacht wurde. Damit will man Russland weiter verunsichern und dazu zwingen, die eigenen Kräfte besser zu schützen, was wiederum den offensiven Vormarsch hemmen soll.»

Ukrainische Offensive bleibt ein Rätsel

Von einer Wende im Krieg gegen die Ukraine möchten weder Masuhr noch Berni sprechen. «Ich glaube, wir sehen im Moment ein Ringen um die operative Initiative. Beide Seiten versuchen, das Momentum zu gewinnen», schätzt Marcel Berni die Lage ein.

Es sei zu erwarten gewesen, «dass sich die russische Angriffsstärke erschöpfen würde. Trotzdem ist es der Ukraine bisher noch nicht gelungen, operative Gegenangriffe mit grossen Geländegewinnen auszuführen.»

Es seien eher kleinere, punktuelle Angriffe, die aber durchaus in den letzten Tagen erfolgreich waren. «Mir gibt die ukrainische Ankündigung einer Offensive weiterhin Rätsel auf», so Marcel Berni.

Geschickt gesetzte Nadelstiche

Auch Niklas Masuhr sieht keine Anzeichen dafür, «dass die Grossoffensive Richtung Cherson gestartet hat, von der vor einigen Wochen die Rede war. Stattdessen scheint der Ansatz wie eigentlich seit Beginn des Kriegs zu sein, das russische Militär graduell auf der strategischen Ebene abzunutzen und zu überdehnen.»

Das machten die Ukrainer laut Masuhr aber sehr geschickt, weil sie westliche Waffenlieferungen zu militärisch günstigen Zeitpunkten einsetzen. «So wurden zum Beispiel die amerikanischen Mehrfach-Raketenwerfer Himars genau dann enthüllt, als Russland eine semi-permanente Artilleriearchitektur für die Schlacht um Severodonestk aufgebaut hatte, die dann unter Feuer genommen werden konnte.» Die Ukraine habe es geschafft, «neu gelieferte Technologie effektiv einzusetzen», bevor Russland reagieren konnte.

«Ich bin mir nicht sicher, ob wir von einer Wende sprechen können», analysiert Niklas Masuhr die aktuelle Lage. «Meines Erachtens hat der Fall von Sjewjerodonezk vor einigen Wochen nicht dazu geführt, dass Russland die Initiative wieder an sich reissen konnte. Ich sehe aktuell nicht, dass Russland das Potenzial für gross angelegte Offensiven hat. Wie es diesbezüglich auf Seite der Ukraine aussieht, ist unbekannt.»

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