Kreml-Pläne für Belarus«Ich würde allen Europäern empfehlen, Putins Essay zu lesen»
Von Oliver Kohlmaier
21.2.2023
Ein internes Kreml-Papier listet detailliert auf, wie Russland die Kontrolle über den Nachbarstaat Belarus erlangen soll. Was sagt das Dokument über Putins Traum eines grossrussischen Reiches?
Von Oliver Kohlmaier
21.02.2023, 17:33
21.02.2023, 19:58
Von Oliver Kohlmaier
Es ist eine Anleitung zur Übernahme: Ein geleaktes internes Dokument des Kreml legt eine Strategie dar, wie die Kontrolle über den Nachbarstaat Belarus schrittweise erlangt werden soll, genauer: die «Sicherstellung des vorherrschenden Einflusses der Russischen Föderation».
Politisch, wirtschaftlich und militärisch muss Belarus demnach systematisch unterwandert werden. Endziel der Kreml-Strategie ist schliesslich ein sogenannter «Unionstaat».
Der komplette Inhalt des Papiers ist bislang zwar nicht bekannt. Das Selbstbestimmungsrecht des belarussischen Volkes gehört jedoch eher nicht dazu. Stattdessen werden kurz-, mittel- und langfristige Ziele aufgelistet, die jenen in der Ukraine nicht unähnlich sind — aber mit vermeintlich friedlichen Mitteln.
«Putin denkt in Einflusssphären»
Nicht nur deshalb ist der Inhalt des Strategiepapiers für Expert*innen wenig überraschend. Historiker Ulrich Schmid von der Universität St. Gallen sieht lediglich die Fortsetzung einer bekannten Entwicklung in der Beziehung zu Belarus: «Diesen Prozess kann man seit der Niederschlagung der belarussischen Proteste im Jahr 2020 beobachten», schreibt der Russland-Experte auf Anfrage von blue News.
Zur Person
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Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen mit den Schwerpunkten russische Medientheorien und Nationalismus in Osteuropa.
Hintergrund ist Schmid zufolge ein «Deal» zwischen Putin und dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko: «Putin sichert zumindest vorläufig die Macht Lukaschenkos, dafür muss Lukaschenko stückweise Souveränität an Russland abgeben.»
Putins Traum vom grossrussischen Reich
An der Echtheit des Strategiepapiers bestehen nur wenig Zweifel. Der Inhalt des Dokuments sei «absolut plausibel», sagte ein hochrangiger Geheimdienstmitarbeiter der Süddeutschen Zeitung, die in Zusammenarbeit mit anderen Medien das Dokument auswertete. Das Strategiepapier müsse man demnach als Teil eines grösseren Plans von Putin sehen: die Schaffung eines neuen grossrussischen Reiches.
Belarus wäre somit nur ein Baustein in Putins grossrussischem Gedankengebäude, das im Wesentlichen die ehemaligen Sowjetrepubliken umfasst. «Putin denkt in Einflusssphären», erklärt Schmid — mit dem postsowjetischen Raum als Bezugspunkt.
Vor diesen Bestrebungen warnt auch sein St. Galler Kollege James W. Davis gegenüber blue News: «Wir erleben zumindest seit 2008 den Versuch Putins, ehemalige Teilrepubliken der damaligen Sowjetunion unter Russlands Kontrolle zu bringen — wenn nicht gleich durch Annexion, dann als Protektorat oder die Stiftung von innenpolitischen Spannungen.»
Erklärt: Putins Problem mit der Nato
Die Ukraine verlangt Russlands Armee mehr ab als vom Kreml erwartet. Doch das eigentliche Ziel Wladimir Putins ist das Zurückdrängen der Nato: Die europäische Tiefebene ist der Schlüssel zu Moskaus Sicherheit.
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Dies habe man auch im Vorfeld des Angriffs auf die Ukraine beobachten können, oder auch bei der Stiftung ethnischer Spannungen in den baltischen Staaten, schreibt der Politikwissenschaftler.
Vor allem die ehemaligen Sowjetrepubliken kennen die Bedrohung durch Putin aus erster Hand. Nehmen mittel- und westeuropäische Staaten die Bedrohung durch Putin also nicht ernst genug?
Zur Person
zVg
James W. Davis ist Direktor des Instituts für Politikwissenschaft (IPW-HSG) der Universität St. Gallen und Professor für Politikwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Internationalen Beziehungen. Sein Forschungsgebiet umfasst internationale Sicherheit, Methoden der Politikwissenschaft, politische Psychologie sowie die transatlantischen Beziehungen.
Diesen Eindruck hat Davis im Gespräch mit Entscheidungsträger*innen auf der Münchner Sicherheitskonferenz zumindest nicht gewinnen können: «Ob in der politischen Führung oder bei den Militärs wird die Gefahr, welche Putin für Europa darstellt, recht gut verstanden», schreibt Davis, schränkt jedoch ein: «Die Botschaft ist aber immer noch nicht überall angekommen, vor allem unter einigen selbsternannten Intellektuellen.»
Putins grossrussische Träume liessen sich nachlesen, betont der Forscher. In einem viel beachteten Essay von 12. Juli 2021 schrieb Putin schliesslich, dass Russen, Ukrainer und Weissrussen alle Nachkommen der alten Rus seien. Auch die Existenzberechtigung des ukrainischen Staates stellte er in diesem Pamphlet infrage.
«Ich würde allen Europäern empfehlen, diesen Essay zu lesen», sagt Davis.
Tritt Belarus in den Krieg gegen die Ukraine ein?
Laut den beteiligten Medien soll das Strategiepapier aus dem Sommer 2021 stammen. Seitdem hat der Kreml einige der genannten Ziele bereits weitgehend erreicht. So ist die belarussische Abhängigkeit vom grossen Nachbarn im vergangenen Jahr weiter angestiegen, die meisten Medien verbreiten Moskaus Propaganda.
Hinzu kommt, dass sich Tausende russische Soldaten auf belarussischem Territorium befinden. Ein Eintritt des Landes in den Krieg gegen die Ukraine an der Seite Russlands wird immer wieder befürchtet.
Gleichwohl ist auch den Belaruss*innen die Gefahr durch Putin wohlbekannt. Die Proteste der Bevölkerung richteten sich schliesslich nicht nur gegen Lukaschenko, sondern auch gegen Putin als dessen Machtgaranten.
Auch deshalb erwartet Schmid keinen Eintritt des Landes in den Krieg gegen die Ukraine: «Der russische Angriffskrieg in der Ukraine wird von der politischen Führung, vom Militär und von der Bevölkerung stark abgelehnt, weil man weiss, dass der russische Expansionsdrang sich nicht nur auf die Ukraine, sondern auch auf Belarus bezieht.»
Historische Parallelen
Der Historiker sieht indessen Ähnlichkeiten mit einer politischen Entwicklung in Russland unter Nikolaus I., angeblich Putins grossem Vorbild.
Der Zar versuchte im Krimkrieg zwischen 1853 und 1855, den Bosporus unter seine Kontrolle zu bringen. Auch Nikolaus «verfolgte innenpolitisch einen autoritären Kurs und wandte sich gegen eine Liberalisierung der Gesellschaft», schreibt Schmid und fügt hinzu:
«Er sah sich bald innerhalb der europäischen Grossmächte isoliert – Russland verlor nach der Niederlage seine Vormachtstellung in Europa.»