21-Jährige Ukrainerin über den Krieg «Ich will nicht warten, bis eine Rakete durch mein Fenster fliegt»

red.

15.8.2022

Raketenbeschuss zu Beginn des Krieges, am 26. Februar, in einem Wohnhaus in Kiew.
Raketenbeschuss zu Beginn des Krieges, am 26. Februar, in einem Wohnhaus in Kiew.
Bild: Key

Die 21-jährige A.Z. hat den Krieg in der Ukraine aus nächster Nähe erlebt. Inzwischen konnte sie nach Grossbritannien fliehen und arbeitet auch dort. Ein Gespräch über Angst und Anpassungsfähigkeit im Alltag.

red.

A.Z.*, wo waren Sie, als der Krieg begann?

Am 24. Februar war ich in einer Ferienwohnung in Griechenland. Wir befanden uns mitten in unseren Ferien, die meine Familie und ich vier Tage vorher angetreten haben. Um gleich die Frage vieler zu beantworten: Nein, wir sind nicht absichtlich gegangen, es war Zufall.

Wie haben Sie vom Kriegsausbruch erfahren?

Ich bin ein Mensch, der bis 12 Uhr schläft, vor allem in den Ferien, aber an diesem Tag bin ich um 5 Uhr aufgewacht, ohne zu wissen, warum. Der Ton meines Telefons war ausgeschaltet. Als ich auf die Uhr schaute, sah ich eine Reihe ungelesener Nachrichten, einen Anruf von einer Freundin aus Charkiw, die Worte: «Der Krieg hat begonnen.»

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Was ging Ihnen bei dieser Nachricht durch den Kopf?

Ich kann meine Gefühle nicht genau beschreiben. Ich war schon ein paar Tage vorher ängstlich, aber ich habe ehrlich gesagt nicht geglaubt, dass dieser Krieg im 21. Jahrhundert möglich ist. Am Morgen des 24. Februar hatte ich Angst, grosse Angst. Angst um meine Lieben in Mariupol, meine Freundin in Kiew, meine Freunde in Charkiw. In den nächsten Tagen zitterten meine Hände unaufhörlich. Ich weinte die ganze Zeit und verlor durch den Stress fast sechs Kilo. Dabei hatte ich schon vorher ein recht geringes Gewicht.

Hatten Sie das Gefühl, dass Sie den Menschen und dem Land in irgendeiner Weise helfen müssen?

Natürlich. Ich werde nicht lügen und behaupten, dass ich sofort beschloss, in die Ukraine zurückzukehren, um Freiwilligenarbeit zu leisten oder ein Maschinengewehr zu nehmen. Ich hatte damals einfach nicht die Kraft dazu. Aber ich habe versucht, meine Angehörigen so gut wie möglich zu unterstützen und sie darauf vorbereitet, dass sie sich auf einen Informationskrieg einlassen müssen.

Warum haben Sie beschlossen, die Ukraine zu verlassen?

Ich kann nicht sagen, dass ich eine Wahl hatte. Ich habe keine Lust, jeden Tag darauf zu warten, dass eine Rakete durch mein Fenster fliegt, und ich möchte auch nicht meine letzten Kopeken für Brot zusammenkratzen. Ich bin sicher, dass die Ukraine leider eine schwere Wirtschaftskrise erleben wird.

Unsere entfernten Verwandten schlugen uns vor, nach Grossbritannien zu ziehen, und sie halfen uns bei der Unterbringung. Im Juni gelang es mir, einen guten Job zu finden, und da wurde mir klar, dass ich wahrscheinlich für die nächsten paar Jahre nach London ziehen würde. Obgleich ich nicht verhehlen will, dass ich immer wieder nach Hause möchte. Kiew ist für immer meine Lieblingsstadt.

«Ich will nicht verhehlen, dass ich immer wieder nach Hause möchte. Kiew ist für immer meine Lieblingsstadt.»

Wo haben Sie vor dem Krieg gearbeitet, und wie sieht es mit Ihrer jetzigen Tätigkeit aus?

Vor dem Krieg arbeitete ich in einer IT-Akademie für Kinder, und ich liebte meine Arbeit. Leider geriet die Firma nach Kriegsbeginn in Schwierigkeiten und sie musste die Belegschaft verkleinern. Viele bekamen dann zwar ihre Arbeit zurück, aber ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine Stelle in Grossbritannien gefunden. Ich arbeite jetzt für TikTok im Londoner Büro – aber im ukrainischen Team, sodass ein Teil meiner Heimat noch bei mir ist.

Wie denken die Menschen in Grossbritannien über die Ukrainer?

Sie unterstützen uns sehr. In England helfen sie bei der Unterbringung und zahlen eine kleine finanzielle Unterstützung. Man kann sich damit zwar definitiv nicht zurücklehnen und nicht nichts tun, sondern man muss arbeiten und selbst nach Job-Möglichkeiten suchen. Aber die Ukrainer sind ein fleissiges Volk, also gibt es damit keine Probleme. Ich bin den Menschen in Grossbritannien, Europa, Amerika, Kanada, allen, die uns in dieser schweren Zeit helfen, unglaublich dankbar.

Sie sind dann doch in die Ukraine zurückgekehrt. Warum?

Mein Freund ist in der Ukraine, und er ist ein Mensch, den ich unglaublich liebe. Ich würde auch nur für eine Woche zu meinem Freund zurückgehen. Ich war mir sicher, dass ich ihn auch in einer Stadt besuchen würde, auf die Bomben fliegen.

Wie sieht die Ukraine jetzt aus?

Die Ukraine ist schön, auch während des Krieges. Kiew hat glücklicherweise keine so schrecklichen Ereignisse wie Mariupol, Charkiw oder Cherson erlebt, sodass die Menschen in der Hauptstadt bereits langsam wieder zu einem relativ normalen Leben zurückkehren.

Wie beängstigend war es, wieder in Kiew zu sein?

Jeder Ukrainer musste sich an eine neue Routine gewöhnen, selbst in relativ friedlichen Städten: die Luftangriffe, die einen nachts aufwecken und dazu zwingen, in den Luftschutzkeller zu gehen.  Ja, ich hatte Angst, zurückzukehren. Aber schon nach ein paar Tagen zu Hause begann ich, mich mit den Umständen des Krieges zu arrangieren. Aber ich kann immer noch nicht gut schlafen und weine schnell. Es ist unmöglich, sich ganz an den Krieg zu gewöhnen.

«Schon nach ein paar Tagen zu Hause begann ich, mich mit den Umständen des Krieges zu arrangieren.»

Welche Fähigkeiten sind für Sie während des Krieges nützlich?

Anpassungsfähigkeit. Die Ukrainer müssen jeden Tag neue Erfahrungen verkraften und ihr Leben trotzdem weiterführen. Manchmal ist es ein neues Land, manchmal sind es neue Menschen, und manchmal ist es ein neuer Tod.

Geht es Ihren Eltern, Verwandten, Freunden gut? 

In diesem Krieg habe ich, man könnte sagen, Glück. Alle meine Verwandten und Freunde sind relativ sicher. Obwohl meine Grosseltern im März täglich unter Beschuss in Mariupol waren. Das war damals sehr beunruhigend.

Wie gehen Sie selbst mit den Kriegserfahrungen um?

Es fällt mir schwer, über Gefühle zu sprechen, es geht uns allen nicht gut: Meine Mutter nimmt Antidepressiva, ich habe einen Psychotherapeuten aufgesucht, mein Grossvater stottert nach den Erlebnissen. Aber wir haben verstanden, dass es das Wichtigste ist, dass wir leben und relativ gesund sind.


*A.Z. möchte aus Sicherheitsgründen anonym bleiben. Ihr voller Name ist der Redaktion bekannt.