Ukrainerin in der Schweiz «Geniessen Sie das Leben, es kann sich alles schnell ändern»

Von Bruno Bötschi

27.6.2022

Der Krieg in der Ukraine macht Tatjana Werik Angst. Die Schauspielerin spricht über ihren Bruder, der in Kiew lebt, die Solidarität der Schweizer*innen und warum wir trotz allem das Leben geniessen sollten.

Von Bruno Bötschi

Tatjana Werik ist in der Region Saporischschja, im Südosten der Ukraine aufgewachsen. Seit 20 Jahren lebt die Theater- und Filmschauspielerin in Bern.

Zum ersten Mal mit Tatjana Werik gesprochen habe ich Ende Februar, wenige Tage nach Kriegsbeginn. Seither haben wir immer wieder Kontakt, hin und wieder per Telefon, meistens per E-Mail.

Während Weriks Vater wenige Wochen nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine aus Kiew flüchten konnte, wollte sich ihr Bruder der ukrainischen Armee anschliessen.

Frau Werik, vor vier Monaten, am 20. Februar, begann der Krieg in der Ukraine. Täglich sehen wir schreckliche Bilder im TV und hören von neuen Gräueltaten. Sie sind persönlich betroffen, die Ukraine ist Ihr Heimatland. Deshalb zuerst die Frage: Wie geht es Ihnen?

Sie beginnen mit der schwierigsten Frage.

«Es ist kein angenehmes Gefühl, wenn du dir um die nahen Menschen Sorgen machen musst und dabei nichts tun kannst»: Tatjana Werik.
«Es ist kein angenehmes Gefühl, wenn du dir um die nahen Menschen Sorgen machen musst und dabei nichts tun kannst»: Tatjana Werik.
Bild: Privat

Wenn Ihnen eine Frage zu persönlich ist, müssen Sie darauf nicht antworten.

Es gibt so viele Varianten, Ihre Frage zu beantworten. Ich könnte sagen: Mir geht es gut. Ja, es geht mir gut, ich habe zu essen, zu arbeiten, ich kann das Leben geniessen, ich kann leben, ich muss nicht um mein Leben fürchten …

… anders als die Menschen in der Ukraine.

So ist es. Dort fürchten ganz viele Menschen jetzt um ihr Leben. Und unter ihnen sind meine Freund*innen und Verwandte. Also kann ich doch nicht sagen: Es geht mir gut. Denn es gibt immer etwas, was mir Sorgen macht. Und noch genauer ausgedrückt: etwas, was mich wütend macht. Und wie sollte oder wie könnte ich diese Wut zum Ausdruck bringen? Nein, es geht mir so la la. Ich weiss noch nicht, was ich dazu beitragen kann, dass dieser Unsinn – ich finde kein anderes Wort dafür – einfach aufhört.

Während unserem letzten Gespräch erwähnten Sie, dass sich Ihr Bruder für die ukrainische Armee gemeldet hat.

Über meinen Bruder möchte ich nicht viel sagen. Ich fürchte stets um sein Leben. Es ist kein angenehmes Gefühl, wenn du dir um die nahen Menschen Sorgen machen musst und dabei nichts tun kannst. Dann beginnst du deine Gefühle zu verdrängen.

Ich verstehe, wenn Sie nicht über Ihren Bruder reden möchten.

Neulich sprach ich mit ihm und fragte ihn, wie es so ist, immer mit dieser Angst um das Leben konfrontiert zu sein. Er sagte mir, dass man sich auch an diese Angst gewöhnt, an die Angst um das Leben. Nur der Körper höre nicht auf zu zucken, wenn wirklich stark bombardiert wird. Ich kann dann nur zuhören. Ich kann mich auch aufregen. Ich kann schimpfen. Es sind aber nicht meine echten Emotionen in diesem Moment. Meine Emotionen sind eigentlich viel lauter, viel klarer.

Das müssen Sie erklären.

Das ist kein Leben so. Das ist eine Lüge, ein Wahnsinn – all das, wofür die russischen Regierungsmenschen kämpfen. Sie kämpfen nur, um ihr Ego zu füttern. Und das macht wütend. Also, das ist meine ehrliche Antwort auf die Frage, wie es mir geht: Ich bin wütend und ich weiss nicht, welchen Ausdruck ich meiner Wut geben kann. Doch ich finde, dass das alles, was gerade in der Ukraine geschieht, ungerecht ist. Es geht, wie es aussieht, wirklich um die Vernichtung der ukrainischen Kultur. In den besetzten Regionen werden von den russischen Soldaten anscheinend sogar die Bücher in ukrainischer Sprache verbrannt. Und sie verhalten sich grausam gegenüber den ukrainischen Menschen.

Was denken Sie, woher kommt dieser Hass?

Das ist schwer zu verstehen. Doch das weckt natürlich eine tiefe Wut in den Ukrainer*innen. Auch in mir. Die Wut, die wahrscheinlich auch schon meine Vorfahren hatten. Denn es gibt schon seit Jahrzehnten diesen latenten Konflikt zwischen den Russen und den Ukrainern. Eine Hass-Liebe, irgendwie so.

«Ich weiss noch nicht, was ich dazu beitragen kann, dass dieser Unsinn – ich finde kein anderes Wort dafür – einfach aufhört»: Tatjana Werik.
«Ich weiss noch nicht, was ich dazu beitragen kann, dass dieser Unsinn – ich finde kein anderes Wort dafür – einfach aufhört»: Tatjana Werik.
Bild: Privat

Ich gebe zu, ich habe in den letzten Tagen nur noch wenig Nachrichten gelesen und geschaut, weil ich die schlimmen Bilder aus der Ukraine nicht mehr ertragen kann. Gleichzeitig habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich denke, es sei meine verdammte Pflicht, mich besser zu informieren über die Situation in Ihrem Heimatland.

Ich möchte und kann weder ihr schlechtes Gewissen beruhigen noch ihnen die Pflicht abnehmen. Ich glaube, ehrlich gesagt, gar nicht an eine Pflicht. An überhaupt keine Pflicht. Entweder macht man etwas aus Liebe und Lust, aus dem Wunsch, etwas zu ändern, sich zu zeigen, sich sichtbar zu machen, oder man lässt es sein. Doch aus Pflicht soll man nichts tun. Das ist die Falle der modernen westlichen Gesellschaft: das Erfinden der Pflicht. Ich glaube nicht, dass die ukrainischen Soldaten, zum Beispiel, jetzt aus einer Pflicht heraus kämpfen.

Sondern?

Sie kämpfen aus Überzeugung. Ich glaube auch nicht, dass die Schweizer*innen, die die geflüchteten Ukrainer*innen bei sich aufnahmen, dies aus der Pflicht taten. Ich denke, sie folgten dem natürlichen menschlichen Impuls, etwas Gutes für die anderen Menschen zu tun. Und wenn Sie das Gefühl haben, sie sollten sich besser über den Krieg in der Ukraine informieren, weil das Ihre Pflicht sei, kann es gefährlich werden. Wissen Sie, warum?

Sagen Sie es mir bitte.

Sie könnten plötzlich wütend werden.

Auf wen wütend werden?

Auf die Ukrainer*innen, weil sie ihretwegen Ihre Ruhe nicht haben und das Leben nicht einfach geniessen können. Die Pflicht verdirbt jegliche Motivation und tötet die Leichtigkeit. Doch ich finde, umso mehr sollen wir jetzt das Leben geniessen – mit diesem Bewusstsein, dass sich alles sehr schnell ändern kann. Wir sollen nicht jammern, finde ich, wir sollen das Leben weiterhin bejahen. Doch wir dürfen auch nicht vergessen, dass sich jede Minute jetzt jemand an einem anderen Ort Europas in Lebensgefahr befindet. Deswegen wäre es super, weiterzumachen: Für den Frieden zu demonstrieren, über den Krieg zu reden, uns die Ungerechtigkeiten und die Grausamkeiten, die gerade geschehen, anzusehen. Nicht aus einer Pflicht heraus, sondern aus dem Wunsch, dass sich das ändert und aus der Überzeugung, dass wir Menschen es auch anders können, als bloss unserem Ego und dem Bösen zu dienen.

Ich spüre, dass Sie trotz Sorge und Wut die Hoffnung nicht verloren haben.

Ich weiss nicht, wie wirksam sie ist, meine Einstellung, dass wir jetzt in diesen unsicheren Zeiten sowohl noch mehr das Leben geniessen als auch unsere Wut zeigen sollen – also nicht entweder oder, sondern gleichzeitig. Ich denke, das wäre das Annehmen von dem, was ist. Und es ist halt immer beides, was das Leben ausmacht: das Grausame und das Schöne. Und beides ist stark. Und beides ist sehr nahe beieinander. Und wenn wir das Grausame nicht ganz annehmen wollen, können wir auch das Schöne nicht ganz wahrnehmen, glaube ich. Ich höre immer wieder auch von den schönen Erzählungen aus der Ukraine.

Welche Erzählungen meinen Sie?

Zum Beispiel darüber, dass sich die Menschen, die die Blockaden überstanden und nun befreit wurden, bei einer Begegnung nicht begrüssen, sondern einfach umarmen, ohne ein Wort zueinander zu sagen. Weil es keine Worte braucht. Man ist bloss dankbar. Für das Leben. Für die Begegnungen. Und es wäre ja so unglaublich schön, wenn wir einander und unser Leben immer wertschätzen. Nicht erst im Angesicht des Krieges. Nun haben wir immerhin die Chance, uns dessen bewusst zu werden.


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