Amina (34) über ein Jahr Taliban-Herrschaft «Ich kann immer noch nicht fassen, wo wir gelandet sind»

Von Arne Bänsch und Nabila Lalee, dpa

14.8.2022 - 12:11

Ein Jahr Taliban-Herrschaft in Afghanistan

Ein Jahr Taliban-Herrschaft in Afghanistan

Ein Jahr Taliban-Herrschaft in Afghanistan

14.08.2022

Bilder von chaotischen Szenen am Flughafen Kabul gingen im August 2021 um die Welt. Heute ist Ernüchterung eingekehrt: Die Taliban haben nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich wieder das Sagen.

Als die afghanische Hauptstadt Kabul vor einem Jahr in die Hände der Taliban fiel, war die junge Richterin Amina auf dem Weg in Richtung Provinz. «Wir sahen, wie sich die Fahrzeuge der Taliban in Richtung Kabul bewegten. Meine Familie war sehr besorgt.»

Nach ein paar Telefonaten machte die 34-Jährige mit ihrem Fahrer schliesslich kehrt – und fuhr zurück nach Kabul, zurück zu ihrer Familie. «Alle hatten grosse Angst. Keiner wusste, was passieren würde», erinnert sich die junge Frau an den 15. August 2021. Panik machte sich breit. «Wir sind herumgerannt und verbrannten unsere Dokumente.»

Vielen Afghaninnen und Afghanen war die prekäre Lage seit Jahren klar. Immer wieder wurde der politischen Elite Korruption vorgeworfen, die Moral in der Armee verschlechterte sich zuletzt rasant. Wegen der schlechten Sicherheitslage griff die Regierung schon vor dem Machtwechsel zu immer extremeren Massnahmen.

«Alle Kollegen haben Waffen erhalten. Ich bekam auch eine», erzählt Amina. «Als die Taliban in Kabul mit Hausdurchsuchungen begannen, haben wir sie nachts weggeworfen, damit sie nicht im Haus gefunden wird.» Amina, die eigentlich anders heisst, erlebte von 2001 bis 2021 ein Afghanistan, das sich öffnete.

«Als Richterin habe ich viel Respekt genossen»

Zum Beispiel mit der Stärkung der Frauenrechte: Vor der US-geführten Militärinvasion und der Befreiung des Landes von den Taliban war eine Karriere einer jungen Frau im Justizwesen undenkbar. Doch Amina erlebte eben auch den radikalen Bruch im Sommer 2021, den Entwicklungsschritt zurück. «Ich kann immer noch nicht fassen, wo wir gelandet sind. Wir haben jahrelang studiert, wir haben hart gearbeitet.»

Geheime Schulen geben afghanischen Mädchen Hoffnung

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Trotz der vielen Anschläge blieb sie kämpferisch. «Ich bin jeden Morgen mit neuem Mut aufgewacht. Als Richterin habe ich viel Respekt genossen.» Seit mehr als vier Jahrzehnten ist Afghanistan von Konflikten und Kriegen geplagt. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 folgte mit der internationalen Militärinvasion ein herber Einschnitt für das Land, die Taliban wurden entmachtet.

20 Jahre später entschieden sich die USA und ihre Partner zum Abzug der Soldaten – und die Taliban übernahmen wieder die Macht. Eines ihrer Versprechen an die Bevölkerung war es, für Frieden und Sicherheit zu sorgen. Doch die Kritik an den neuen Herrschern ist gross. Das Land erlebt eine humanitäre Katastrophe, fast die Hälfte der Bevölkerung ist von Hunger bedroht.

«Jeder wusste, dass der Zusammenbruch kommen würde»

Und immer wieder bemängeln Organisationen, dass Menschenrechte missachtet und Frauen vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden. Aus Sicht der neuen Taliban-Regierung wurde Afghanistan vor zwölf Monaten von einer «Besatzungsmacht» befreit, das betont die militante Gruppe immer wieder. Der schnelle Vormarsch überraschte damals viele Experten, fast kampflos wurde Kabul letztlich von den Taliban erobert.

Seit die Schulen für Mädchen passé sind, kommen viele von ihnen hierher: eine Koran-Schule in Kabul am 9. August.
Seit die Schulen für Mädchen passé sind, kommen viele von ihnen hierher: eine Koran-Schule in Kabul am 9. August.
AP

«Dank Allah haben wir dieses Ziel erreicht, und im Moment geniesse ich es, in einem freien Land zu sein», erklärt Bilal Karimi, einer der hochrangigen Regierungssprecher. «Jeder wusste, dass der Zusammenbruch kommen würde, doch der Zeitpunkt war eine Überraschung», sagte der Experte Tamim Asey.

Er beschreibt die afghanische Armee als tapfer und opferbereit – aber im vergangenen Jahr auch von Korruption und Inkompetenz in den höheren Rängen durchzogen. 2021 habe die Armee pro Tag bis zu 160 Mann verloren, so Asey, der unter Präsident Aschraf Ghani einige Zeit auch als Vizeverteidigungsminister arbeitete.

Vertrag zwischen USA und Taliban kippt afghanische Moral

Auch war die Armee bei der Machtübernahme der Taliban weit kleiner als offiziell angegeben: Viele der afghanischen Soldaten waren längst gefallen. Wenn selbst erfahrene Armeen aus dem Westen die Taliban nicht erfolgreich bekämpfen konnten, wie sollte es dann eine junge Armee wie die afghanische schaffen?

Ein Talibankämpfer patrouilliert durch den von Schiiten dominierten Kabuler Stadtteil Dashte Barchi am 7. August.
Ein Talibankämpfer patrouilliert durch den von Schiiten dominierten Kabuler Stadtteil Dashte Barchi am 7. August.
AP

Der grösste Schlag für die Moral der Armee sei der Friedensvertrag zwischen den USA und den Taliban im Februar 2020 gewesen. Viele Soldaten fragten sich plötzlich: Wenn sie mit diesen Leuten Frieden schliessen, warum sollten wir dann kämpfen? Der Westen habe sich mit Blick auf die Taliban zu viele Hoffnungen gemacht.

«Sie haben ein ganzes Land an eine Terrorgruppe ausgeliefert. Unter der Annahme, dass sie sich geändert haben und sich in eine verantwortungsvolle Regierung westlichen Stils verwandeln würden, was sie nicht getan haben.» Das jüngste Beispiel dafür sei die Tötung des Al-Kaida-Chefs Aiman al-Sawahiri bei einem US-Drohnenangriff Ende Juli im Herzen Kabuls.

Hätte Präsident Ghani mit den Taliban verhandeln sollen?

Die Taliban bieten Terroristen also weiterhin Unterschlupf – so die allgemeine Lesart nach der Tötung. Auch regionale Mächte hätten die Machtübernahme der Taliban ermöglicht, sagt Asey. Viele Länder um Afghanistan herum wollten dem Experten zufolge, dass die Nato und die USA in Afghanistan versagen – und stärkten die Taliban entsprechend. Der letzten afghanischen Regierung macht er schwere Vorwürfe.

Al-Kaida-Chef al-Sawahiri bei US-Drohnenangriff getötet

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Die Flucht von Präsident Ghani kurz vor der Machtübernahme durch die Taliban habe das Schicksal schliesslich besiegelt. «Er konnte das Land und die Eliten nicht vereinen. Er kannte die Sprache des Westens, aber er kannte die Sprache seines eigenen Volkes nicht und seine Flucht war eine Schande.» Asey glaubt, dass es auch anders hätte kommen können.

Etwa, wenn der Präsident einen Deal mit den Taliban ausgehandelt hätte und für eine Übergangsregierung zurückgetreten wäre. Die Geschichte wiederholt sich nach den Worten des früheren Vizeverteidigungsministers, war der Kriegsgrund 2001 doch die Jagd auf Osama bin Laden, der damals während der Taliban-Herrschaft Unterschlupf im Land gefunden hatte. «Afghanistan ist erneut zu einem sicheren Hafen für den Terrorismus geworden.»

«Der Westen scheint nicht aus der Geschichte lernen»

Beweise dafür gebe es genug. Lediglich die Dschihadistengruppe Islamischer Staat, die mit Terrorzellen im Land aktiv ist, werde von den Taliban bekämpft. «Es scheint, dass die Vereinigten Staaten und der Westen nicht aus der Geschichte lernen.» Die Taliban weisen diese Darstellung stets zurück. Nach der Tötung von Al-Kaida-Chef al-Sawahiri verkündete die amtierende Regierung, dass sie von dessen Aufenthalt nichts gewusst habe.

Die Machthaber in Afghanistan bemühen sich um internationale Anerkennung. Einmischung lehnen sie ab. Forderungen der internationalen Staatengemeinschaft, die weiterführenden Schulen für Mädchen wieder zu öffnen, betrachten die Taliban als interne Debatte. «Niemand hat das Recht, die inneren Angelegenheiten unseres Landes mit uns zu diskutieren oder uns vorzuschreiben, dass wir dieses oder jenes System haben sollten», erklärt Talibansprecher Karimi.

Die Taliban scheinen sich selbst aber in vielen Punkten uneinig zu sein – vor allem, was das Thema Bildung angeht. Während die Schulen für viele Mädchen im Land geschlossen bleiben, schicken hochrangige Talibanführer ihre Töchter zur Ausbildung ins Ausland. Die Hoffnung scheinen aber viele nicht aufgeben zu wollen.

«Die jungen Menschen und ihre Familien möchten weiterlernen – in der Hoffnung, dass sich die Situation eines Tages bessert», sagt Amina. Die junge Frau selbst sieht die Zukunft ihres Landes aber düster. Die Leute seien unter der alten Regierung schon unzufrieden gewesen – doch sie ahnten nicht, dass alles noch schlimmer komme. «In Zukunft werden wir wohl vor allem mehr Psychiatrien in Kabul brauchen.»

Von Arne Bänsch und Nabila Lalee, dpa