«Ich bin ein Kind!»Auch Minderjährige werden Opfer von US-Polizeigewalt
AP/toko
13.2.2021 - 14:29
Bilder eines neunjährigen schwarzen Mädchens in Handschellen, dem Polizisten Pfefferspray ins Gesicht sprühen, sorgen in den USA für Entsetzen. Doch das brutale Vorgehen ist kein Einzelfall.
In Handschellen sitzt das neunjährige schwarze Mädchen auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens. Es ruft nach seinem Vater, während die weissen Beamten zunehmend ungeduldig werden beim Versuch, das Kind ganz in das Auto zu schieben. «Das ist deine letzte Chance», warnt einer von ihnen. «Sonst bekommst du Pfefferspray in die Augen.» Weniger als 90 Sekunden später geschieht genau das. Das Mädchen schreit: «Bitte wischen Sie mir die Augen ab!»
Was mit einer Meldung über «familiäre Schwierigkeiten» in Rochester im US-Staat New York begann, endete damit, dass die Polizei eine Viertklässlerin wie eine Tatverdächtige behandelte. Als jüngstes Beispiel für polizeiliches Fehlverhalten gegenüber schwarzen Menschen löste der Vorfall Entsetzen aus. Inmitten der Debatte über Polizeigewalt und Rassismus seit dem Tod von George Floyd im Mai 2020 zeigt der Umgang mit dem Mädchen, dass selbst kleine Kinder davor nicht sicher sind.
Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass schwarze Kinder häufig älter geschätzt werden, als sie sind, und zudem mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als bedrohlich oder gefährlich wahrgenommen werden. Experten warnen schon lange davor, dass die Polizei mit solchen Kindern grundlegend anders umgeht als mit weissen. In einigen Fällen hat das tödliche Folgen. Dazu gehört der Fall des erst zwölf Jahre alten Tamir Rice, der 2014 von einem weissen Polizisten in Cleveland erschossen wurde.
«Schwarze Kinder haben nie die Chance, Kinder zu sein»
Die Wahrscheinlichkeit, durch eine Polizeikugel zu sterben, ist für schwarze Kinder und Jugendliche sechs Mal so hoch wie für weisse, wie aus einer Ende vergangenen Jahres im US-Fachmagazin «Pediatrics» veröffentlichten Studie hervorgeht. Die Untersuchung beruhte auf Daten über Polizeigewalt gegen junge Menschen zwischen zwölf und 17 Jahren von 2003 bis 2008.
«Schwarze Kinder haben nie die Chance, Kinder zu sein», sagt die auf Jugendstrafrecht spezialisierte Juraprofessorin Kristin Henning von der Georgetown-Universität. «Schwarze Kinder werden als älter, schuldiger und weniger zugänglich für Rehabilitationsmassnahmen wahrgenommen und so, als hätten sie die westlichen Vorstellungen von Unschuld und Kindheit weniger verdient.»
In dem Fall aus Rochester hatte die Mutter des Mädchens nach einem Streit mit ihrem Mann am 29. Januar die Polizei gerufen. In Videoaufnahmen ist zu sehen, wie die Polizisten vor Ort dem Mädchen Handschellen anlegen und es dann in ihr Fahrzeug bringen wollen. Ein Beamter sagt zu der sich sträubenden Neunjährigen: «Du benimmst dich wie ein Kind!» Das Mädchen antwortet: «Ich bin ein Kind!» Die Polizisten wurden inzwischen bis auf Weiteres vom Dienst suspendiert.
Die Mutter der Neunjährigen, Elba Pope, wirft den Beamten vor, dass sie mit einem weissen Kind niemals so umgegangen wären wie mit ihrer Tochter. «Wenn sie sie betrachtet hätten wie ihre eigenen Kinder, hätten sie ihr kein Pfefferspray ins Gesicht gesprüht», sagt sie. Wissenschaftlerin Henning stimmt zu: «Wenn dieses Kind ausgesehen hätte wie eines ihrer eigenen kleinen Mädchen, wie das kleine Kind, das sie ins Bett gebracht haben, wäre es viel unwahrscheinlicher gewesen, dass sie das getan hätten.»
Polizist wollte Sechsjährige festnehmen
New York ist nicht der einzige Ort, an dem Polizeigewalt gegen schwarze Kinder für Empörung sorgt. In Denver wurden im vergangenen Jahr vier schwarze Mädchen im Alter zwischen sechs und 17 Jahren festgenommen. Ihnen war fälschlich vorgeworfen worden, in einem gestohlenen Auto mitgefahren zu sein. Laut einer Klage der Familie versuchte ein Polizist, der Sechsjährigen Handschellen anzulegen – diese seien aber zu gross gewesen für das Kind. Auch aus Texas und South Carolina wurden Fälle von brutalem Polizeivorgehen gegen schwarze Mädchen gemeldet.
Wegen solcher Vorfälle spricht Holly Frye aus South Ogden in Utah fast täglich mit ihren drei Kindern darüber, wie sie sich der Polizei gegenüber verhalten sollen. Es seien dieselben Gespräche, wie sie schon ihre Eltern früher mit ihr geführt hätten, sagt sie: «Diese Art der Aggression gegen Schwarze gibt es schon immer, aber jetzt wird sie registriert. Es ist ein Thema, das niemals unseren Küchentisch verlässt, wir reden ständig darüber.»
Strukturelle Benachteiligung
Über die Interaktionen sehr kleiner Kinder mit der Polizei gibt es zwar wenig Daten. Doch die Wahrscheinlichkeit einer Festnahme ist einer Untersuchung des gemeinnützigen Sentencing Projects zufolge für schwarze Jugendliche fast fünf Mal so hoch wie für weisse Altersgenossen. Die Rate von Inhaftierungen pro 100'000 liegt für weisse Jugendliche bei 83, für gleichaltrige Schwarze dagegen bei 383. Schwarzen Jugendlichen drohen zudem härtere Strafen, wie es in einem Bericht der Organisation heisst.
Die strukturelle Benachteiligung, die sich im Bildungssystem fortsetze, führe bei jungen Schwarzen zu einer Traumatisierung und zu Misstrauen den Behörden gegenüber, warnen Experten. Schwarze Kinder seien bei vielen Erwachsenen «einer unterschwelligen Annahme, dass sie nicht glaubwürdig sind und dass sie immer etwas Falsches im Schilde führen», ausgesetzt, sagt Judith Browne Dianis vom Advancement Project, das gegen strukturellen Rassismus kämpft. «Für schwarze Kinder gibt es keinen netten Polizisten.»