Durchbruch mit Fragezeichen Torpediert Putin schon den Getreide-Deal?

Von Gil Bieler

23.7.2022

Russland macht Weg für ukrainische Getreideexporte frei

Russland macht Weg für ukrainische Getreideexporte frei

Seit Wochen forderte die internationale Gemeinschaft Russland dazu auf, den Export von ukrainischem Getreide zu ermöglichen. Nun gelang in Istanbul ein Durchbruch.

23.07.2022

Darauf hat die Welt gewartet: Endlich soll die Ukraine wieder tonnenweise Getreide über das Schwarze Meer exportieren können. Die Einigung mit Russland weckt Hoffnungen – steht aber auf wackligen Beinen. 

Von Gil Bieler

«Heute gibt es ein Leuchten am Schwarzen Meer», sagte UNO-Generalsekretär António Guterres am Freitag in Istanbul. «Einen Hoffnungsschimmer.»

Im Gespräch mit der britischen BBC stapelte der Portugiese alles andere als tief: Es sei die womöglich wichtigste Tat seiner Amtszeit an der UNO-Spitze gewesen, zeigte er sich überzeugt.

Genau 150 Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine konnten der UNO-Chef und die Türkei, die beide eine Vermittlerrolle einnahmen, einen wichtigen Durchbruch vermelden: Die Blockade von Getreideexporten aus ukrainischen Schwarzmeer-Häfen soll enden, darauf konnten sich die Kriegsparteien in Istanbul einigen.

Nur wenige Stunden später, am Samstag, meldete die ukrainische Regierung, dass Russland den Hafen von Odessa mit Raketen beschossen habe – was bereits einer Verletzung des Abkommens gleichkäme. Das zeigt: Der gefeierte Deal ist mit einigen Unsicherheiten behaftet. 

Welche Bedeutung hat der Deal?

Eine immense. Die Ukraine ist einer der grössten Getreideproduzenten der Welt, entsprechend hart traf die monatelange Blockade die Weltgemeinschaft. Auch Russland ist ein Grossproduzent. Zusammen bauten die beiden Länder vor Kriegsbeginn rund ein Drittel des weltweit gehandelten Weizens an.

Das Welternährungsprogramm der UNO schätzt gemäss einem Bericht des US-Senders CNN, dass 47 Millionen Menschen wegen der Kriegsfolgen in akuten Hungersnot geraten sind. Schätzungen der EU zufolge werden 90 Prozent der Exporte auf dem Wasserweg – also von Odessa und weiteren Schwarzsee-Häfen – gehandelt. Die Vereinten Nationen warnten wegen des Krieges sogar vor der grössten Hungersnot seit Jahrzehnten.

Die diesjährige Ernte hat in der Ukraine bereits begonnen – auch darum weckt die Einigung nun grössere Hoffnungen.

Erleichterung macht sich breit (v. l.): UNO-Generalsekretär António Guteres , der russische Verteidigungsminister Sergei Shoigu, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar in Istanbul. 
Erleichterung macht sich breit (v. l.): UNO-Generalsekretär António Guteres , der russische Verteidigungsminister Sergei Shoigu, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar in Istanbul. 
Bild: AP

Worauf haben sich Kiew und Moskau konkret geeinigt?

Das Problem ist, dass das Meer vor den ukrainischen Häfen vermint ist. Vereinbart wurde nun ein humanitärer Korridor zwischen der Ukraine und dem Bosporus – der Meerenge zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer. Demnach wird der Export von einem gemeinsamen Koordinationszentrum mit Vertretern der UNO, Russlands, der Ukraine sowie der Türkei in Istanbul überwacht. Ein ranghoher UNO-Funktionär nannte das Zentrum den «Herzschlag der Operation».

Der Export betrifft ausserdem nicht nur Getreide, sondern auch andere Lebensmittel, Dünger und Ammoniak.

Die Vereinbarung sieht zudem vor, dass bei Bedarf ein Drittland zur Entschärfung der Minen im Schwarzen Meer herangezogen werden kann. Russland hatte zuvor eine komplette Entminung gefordert – allerdings befürchtet die Ukraine, dass ihre Küste dann zum leichten Ziel für die russische Armee werden könnte.

Auf Druck des Kreml einigten sich die Parteien darauf, dass Schiffe mit dem Ziel Ukraine in Istanbul durchsucht werden. So soll sichergestellt werden, dass sie keine Waffen geladen haben. Eine weitere Kontrolle solle es dann in der Türkei geben, wenn die Schiffe aus der Ukraine kommend das Schwarze Meer wieder verlassen. Auch damit sollen Waffenlieferungen verhindert werden.

Schiffe in dem humanitären Korridor und die beteiligten Häfen dürften dabei nicht angegriffen werden. Nach Auffassung der UNO gilt damit zum Beispiel im Hafen Odessas faktisch eine Waffenruhe.

Der russische Verteidigungsminister Sergei Shoigu (l.) und UNO-Generalsekretär António Guterres unterzeichnen das Abkommen in Istanbul.
Der russische Verteidigungsminister Sergei Shoigu (l.) und UNO-Generalsekretär António Guterres unterzeichnen das Abkommen in Istanbul.
Bild: AP

Wie rasch sollen die Exporte wieder anlaufen?

Die Umsetzung des Abkommens – und damit die Ausfuhr von Nahrungsmitteln aus der Ukraine – könnte gemäss UNO-Angaben noch mehrere Wochen in Anspruch nehmen. Die USA mahnten zur Eile, das Abkommen solle nun ohne Verzögerung umgesetzt werden.

Der ukrainsiche Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in der Nacht auf Samstag, sein Land könne nun insgesamt 20 Millionen Tonnen Getreide aus der Ernte des Vorjahres exportieren. Es seien Vorräte im Wert von rund 10 Milliarden Dollar eingelagert.

Wird sich Putin an das Abkommen halten?

Westliche Politiker*innen hatten Wladimir Putin immer wieder vorgeworfen, Nahrungsexporte als «Waffe» einzusetzen. Und das Misstrauen gegenüber dem russischen Präsidenten bleibt auch nach der Unterzeichnung des Abkommens gross. «Jetzt muss dieses Abkommen umgesetzt werden, und wir werden genau beobachten, ob Russlands Handlungen auch seinen Versprechen entsprechen», erklärte beispielsweise die britische Aussenministerin Liz Truss.

Westliche Regierungen sowie Kiew wollen genau beobachten, wie der russische Präsident Wladimir Putin die Getreide-Vereinbarung umsetzt.
Westliche Regierungen sowie Kiew wollen genau beobachten, wie der russische Präsident Wladimir Putin die Getreide-Vereinbarung umsetzt.
Bild: AP

Noch grösser ist das Misstrauen naturgemäss aufseiten der Ukaine. «Ich mache wegen des Abkommens keine Champagnerflasche auf», sagte Aussenminister Dmytro Kuleba der Nachrichtenagentur AP. «Ich drücke die Daumen, dass es funktioniert, dass Schiffe Getreide auf die Weltmärkte bringen und die Preise sinken und Leute etwas zu essen haben. Aber ich bin sehr vorsichtig, weil ich kein Vertrauen in Russland habe.»

Präsident Wolodymyr Selenskyj äusserte in seiner abendlichen Videoansprache ebenfalls Zweifel, ob Russland zu trauen sei. «Es ist jedem klar, dass es Provokationen vonseiten Russlands geben könnte, Versuche, die ukrainischen und internationalen Bemühungen zu diskreditieren», sagte er. «Aber wir vertrauen den UNO.»

Ist der Weg frei für weitere Verhandlungen?

Darauf hofft zumindest die UNO. Moskau und Kiew hätten ihre militärischen Ziele für den Getreide-Deal zumindest in einigen Bereichen hintangestellt. «Man kann versuchen, darauf aufzubauen, und wir werden versuchen, darauf aufzubauen», sagte UNO-Sprecher Farhan Haq. «Wenn die Parteien konkrete Ergebnisse aus den heute erzielten Vereinbarungen sehen können, kann dies meines Erachtens dazu beitragen, ein besseres Klima für künftige Vereinbarungen zu schaffen.»

Mit Material der Nachrichtenagenturen SDA und DPA.