Indien hat sich ehrgeizige Ziele zum Umstieg von Kohle auf erneuerbare Energien gesteckt. Doch bei der Umsetzung stösst das Land auf ein Hindernis nach dem anderen.
DPA, AP/toko
27.03.2022, 00:00
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Pläne zum Bau eines riesigen Solarparks in Indien mündeten im vergangenen Jahr in Gewalt. Nachdem für das Projekt das Ackerland indigener Bauern am Fusse des Himalaya zerstört worden war, kam es zu Kämpfen mit der Polizei. Die meisten Männer des Dorfes Mikir Bamuni mit seinen paar Hundert Einwohnern im Staat Assam waren an dem Tag, dem 29. Dezember, unterwegs auf Arbeitssuche.
Zu den wenigen, die zurückgeblieben waren, gehörte Champa Timungpi. Die 25-jährige wurde nach eigenen Angaben von Polizisten geschlagen und in den Bauch getreten, so dass sie später eine Fehlgeburt erlitt. Sie erstattete Anzeige.
In der von sattem Grün geprägten Ortschaft im Bezirk Nagaon leben viele arme Familien. Das Dorf ist in weiten Teilen noch nicht ans Stromnetz angeschlossen. Heute ist es gesäumt von blauen Solar-Paneelen, Stacheldraht und bewaffneten Sicherheitsleuten. Der Solar-Entwickler Azure Power teilte mit, 38 Hektar Land in dem Dorf rechtmässig von den Eigentümern erworben zu haben. Vorwürfe einer gewaltsamen Übernahme des Landes seien falsch, erklärte das an der New Yorker Börse notierte Unternehmen.
Chaotische Regelungen zum Grundbesitz
Timungpi und andere Bewohner von Mikir Bamuni bestreiten diese Darstellung vehement. Ihre Rechte als Pächter und alteingesessene Bauern seien missachtet worden, sagen sie.
Unabhängig von seinem Ausgang des Streits vor einem Bezirksgericht wirft der Fall nicht nur ein Schlaglicht auf die häufig chaotischen Regelungen zum Grundbesitz in Indien, die auf die Kolonialzeit zurückgehen. Er illustriert vielmehr auch die Komplexität und Drastik der Herausforderungen, vor denen das Land in der Energiepolitik in den kommenden zehn Jahren steht.
Indiens Energiehunger
In den nächsten zwei Jahrzehnten wird dort die Nachfrage nach Elektrizität stärker steigen als im Rest der Welt. Anders als die meisten Länder muss sich Indien noch entwickeln und Millionen Menschen wie Timungpi aus der Armut befreien. Zudem braucht es ein Stromnetz, das so gross ist wie das der Europäischen Union.
Die Art und Weise, wie das Land seinen Energiebedarf decken wird, wird deutliche Auswirkungen auf die weltweiten Klimaziele haben. Indien trägt durch die Verbrennung von Kohle und anderen fossilen Brennstoffen in grossem Masse zur Treibhausgas-Belastung bei.
Ministerpräsident Narendra Modi kündigte im vergangenen Jahr auf dem UN-Klimagipfel an, dass sein Land seine Kapazität an Strom aus nicht fossilen Energiequellen bis 2030 auf 500 Gigawatt steigern werde – von 104 Gigawatt zu Beginn dieses Jahres.
Zur angestrebten Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad werden solche kurzfristigen Energieziele zwar nicht viel beitragen. Für Indien ist es dennoch eine gigantische Aufgabe, wie ein Parlamentsausschuss im Februar erklärte. Dafür sind Investitionen bis zu 26,8 Milliarden Dollar (24,3 Milliarden Euro) notwendig, von denen aber nur zehn Milliarden zur Verfügung stehen.
Einige Hindernisse bei der Umstellung auf erneuerbare Energien stellen sich weltweit – etwa die Notwendigkeit, Stromspeicher zu bauen für Zeiten, in denen die Sonne nicht scheint oder der Wind nicht weht. Andere gelten vor allem für Indien. Dazu gehört die Frage des Landbesitzes in armen Gemeinden, die die geringste Verantwortung tragen für die Klimakrise und die Erfordernis, Energiesysteme umzubauen, die sich jahrhundertelang auf Kohle gestützt haben.
Einem Expertenbericht aus dem vergangenen Jahr zufolge wäre es ein optimaler Mix, wenn Indien bis 2030 mehr als die Hälfte seiner Energie aus Sonne und Wind gewinnen würde. Doch grosse Solar- und Windkraftanlagen stossen in den Gemeinden auf Widerstand. Ein Grund dafür ist, dass der Grundbesitz an vielen Projekt-Standorten unklar ist. So nutzen etwa manche Gemeinden ohne Rechtsanspruch seit Jahrhunderten Ländereien für Landwirtschaft oder Viehhaltung.
Seine Abhängigkeit von grossen Solarparks könnte Indien durch den Bau von Solarpaneelen auf Dächern in Städten reduzieren. Nach anfänglich nur geringen Zielen in diesem Bereich fördert die Regierung solche Vorhaben inzwischen, der Sektor wächst. Insgesamt 28 Millionen Haushalte sollen künftig ihren Strom über Solaranlagen auf Dächern erhalten.
Doch für die meisten Hauseigentümer sind die Installationskosten zu hoch. Im Juni vergangenen Jahres lagen nach Angaben der Energie-Consulting-Firma Bridge to India weniger als 17 Prozent aller Dach-Sonnenkollektoren auf Privathäusern. Von seinem Ziel für diese Energieform im Jahr 2022 hat das Land erst vier Prozent erreicht.
Hoffnung auf Offshore-Windanlagen
Wind könnte zu einem weiteren wichtigen Element im Portfolio des Landes an sauberen Energien werden. An den attraktivsten Stellen seien aber kleine Turbinen mit veralteter Technologie platziert, erklärt Gagan Sidhu, Direktor für Energiefinanzierung beim Thinktank Rat für Energie, Umwelt und Wasser. Durch einen Austausch gegen moderne Anlagen könnte die Kapazität laut einer Studie aus dem Jahr 2017 stark gesteigert werden – allerdings ist unklar, wer die Modernisierung vornehmen und bezahlen würde.
Mit seiner etwa 7500 Meter langen Küste könnte Indien nach Einschätzung von Experten genug Offshore-Windanlagen bauen, um damit bis 2050 rund ein Drittel seiner Stromkapazität zu decken. Doch der Bau der Windparks ist sehr teuer – das erste derartige Vorhaben, eine Anlage am Arabischen Meer, ist noch nicht einmal an den Start gegangen.