Sabotage an Ostsee-PipelinesPro Leck ist eine halbe Tonne TNT explodiert
Von Andreas Fischer
1.10.2022
Viertes Leck an Nord-Stream-Pipelines entdeckt
Die Behörden in Schweden haben ein viertes Leck an den Nord-Stream-Pipelines am Grund der Ostsee entdeckt. Damit gibt es jetzt zwei Schadstellen in schwedischen Gewässern und zwei in dänischen.
29.09.2022
Experten haben berechnet, dass pro Leck in Nord Stream 1 und 2 jeweils 500 Kilogramm Sprengstoff zum Einsatz gekommen sind. Eindringendes Salzwasser droht nun, die Pipelines vollkommen unbrauchbar zu machen.
Von Andreas Fischer
01.10.2022, 00:00
Von Andreas Fischer
Etwa 17 Milliarden Euro hat der Bau der jeweils etwa 1200 Kilometer langen Doppelröhren von Nord Stream 1 und 2 gekostet. Beim heutigen Umrechnungskurs entspricht dieser Betrag 16,3 Mrd. Franken. Es wurde also eine ganze Menge Geld in der Ostsee versenkt – und das droht nun, für immer auf dem Meeresgrund verloren zu gehen.
Die Chance, den Totalverlust zu vermeiden, sinkt praktisch stündlich. Durch Lecks strömt seit Montag Salzwasser in die Nord-Stream-Pipelines und greift die Speziallegierung im Inneren der Rohre an. Die deutsche Bundesregierung geht davon aus, dass die Röhren wegen der Korrosionsschäden für immer unbrauchbar sind.
Zwar halten die Betreiber der Pipelines Reparaturen grundsätzlich für machbar: Die Nord Stream AG wolle «mit der Bewertung der Schäden an der Pipeline beginnen, sobald sie die erforderlichen behördlichen Genehmigungen erhalten hat». Doch ist es derzeit mehr als fraglich, ob der politische Wille für eine Wiederinbetriebnahme vorhanden ist.
Die Umwelt wird die Lecks verkraften
Abgesehen von der politischen Bedeutung der Lecks stellt sich vor allem die Frage, welche Auswirkungen das Austreten des Gases auf die Umwelt haben. Erdgas besteht zum grössten Teil aus Methan – ein Gas, das ein etwa 25 Mal stärkeres Treibhausgas ist als CO2. Durch die Beschädigung der Pipelines sei laut einer Auswertung des Integrated Carbon Observation System (ICOS) so viel Methan in die Atmosphäre gelangt, wie eine Stadt wie Paris oder ein Land wie Dänemark in einem Jahr verursachen.
Nach Einschätzung von deutschen Umweltexperten haben die Lecks wenig Auswirkungen auf die direkte Meeresumwelt in der Ostsee. Das Methan löse sich teilweise in Wasser und sei nicht giftig. Je tiefer das Gas im Meer frei werde, desto höher sei der Anteil, der sich im Wasser löse.
Allerdings könnten entsprechend dem Füllstand der gesprengten Gasleitungen etwa 350'000 Tonnen Methan an die Oberfläche blubbern und in die Erdatmosphäre gelangen. Das wiederum habe direkte Auswirkungen auf das Klima, sagte Dave Reay, geschäftsführender Direktor des Instituts für Klimawandel der Universität Edinburgh, in einer Erklärung.
Exactly how much methane was and is being lost by these leaks remains unclear. Could be as much as 200K tonnes. Fossil fuel sector emits approx 100M tonnes of methane through mining, flaring etc each year. Ending such 'fugitive' methane must be a priority for climate action. https://t.co/UTX2TeujIG
Reay schränkte allerdings ein, dass die Nord-Stream-Blase «ziemlich klein» sei im Vergleich zu den riesigen Mengen an «flüchtigem Methan», die weltweit täglich durch Fracking, Kohleabbau und Ölförderung freigesetzt werde.
Auch Jeffrey Kargel, vom Planetary Research Institute in Tucson, Arizona, betont im Magazin «Politico», dass «es ist nicht die Klimakatastrophe ist, die man vermuten könnte». Dennoch sei das Leck «wirklich beunruhigend. Es ist eine echte Travestie, ein Umweltverbrechen, wenn es absichtlich war.»
Kurz erklärt: Nord-Stream-Lecks haben Folgen für das Klima
Die Pipeline-Lecks in der Ostsee sorgen auch wegen ihrer Folgen für Umwelt und Klima für Besorgnis. Das austretende Erdgas besteht zum grössten Teil aus dem besonders klimaschädlichen Treibhausgas Methan.
29.09.2022
Jeweils eine halbe Tonne TNT-Sprengkraft
Von Vorsatz wird mittlerweile auf allen Seiten ausgegangen. Schon früh nach Bekanntwerden der Lecks Anfang der Woche deutete gemäss Recherchen des Berliner «Tagesspiegel» vieles auf professionelle Sabotageakte hin. Die Vermutung, dass nur ein staatlicher Akteur hinter den Lecks stecken kann, wird von neuen Erkenntnissen nochmals gestützt.
Wie der «Spiegel» unter Berufung auf Informationen aus deutschen Sicherheitsbehörden berichtet, seien für die Explosionen «Bomben mit grosser Sprengkraft» zum Einsatz gekommen. Die Sprengsätze hätten jeweils eine Wirkung von 500 Kilogramm TNT-Äquivalent.
Dabei muss der Sprengstoff nicht in einer Art Kommando-Operation erst in den letzten Wochen angebracht worden sein. Genauso könnte ein «staatlicher Akteur» die Sprengsätze schon vor längerer Zeit platziert haben – vor Monaten oder gar Jahren.
Die Rekonstruktion der Tat in einem Gebiet, das intensiv genutzt wird, ist für die Ermittler eine krosse Herausforderung. Erst im Juni hatte die NATO ihre Marine-Übung Baltops 22 in Gewässern vor der dänischen Insel Bornholm abgehalten.
«Geübt wurden amphibische Operationen, U-Boot-Bekämpfung, Luftverteidigung, Luftunterstützung maritimer Operationen, Minenräumung, Kampfmittel-Beseitigung sowie Tauch- und Bergungseinsätze», schreibt die deutsche Bundeswehr. Derzeit läuft in der Ostsee das Seemanöver Northern Coasts 22.
Bomben von innen?
Wie die Sprengsätze angebracht worden sind, darüber gibt es mehrere Theorien. Im Blick haben Ermittler aus Dänemark, Schweden und Deutschland beispielsweise die Frage der Reichweite von Militärtauchern, also wie weit diese Spezialkräfte mit einer grösseren Last maximal schwimmen könnten.
Gemäss einer weiteren Hypothese könnten auch Reinigungsroboter innerhalb der Röhren die Bomben an die Explosionsstellen transportiert haben. Möglicherweise können Taucher oder ein ferngesteuerter Roboter schon am Wochenende die Lecks begutachten, berichtet der «Spiegel», und erste Hinweise über die Ursachen finden.
«Unsere Fantasie gibt kein Szenario mehr her, das kein gezielter Anschlag ist», zitiert der «Tagesspiegel» eine eingeweihte Person der deutschen Bundesregierung. «Alle derzeit verfügbaren Informationen deuten darauf hin, dass dies das Ergebnis vorsätzlicher, rücksichtsloser und unverantwortlicher Sabotageakte ist», hiess es auch in einem Statement des Nordatlantikrats. Mit offiziellen Beschuldigen möglicher Drahtzieher hält man sich dort aber zurück.
Moskau zeigt mit dem Finger klar auf die USA
In Moskau ist man bei Schuldzuweisungen forscher. Die russische Führung hat eine Aufklärung der mutmasslichen Sabotage an der Ostseepipeline Nord Stream gefordert und die USA als Hauptverdächtigen dargestellt.
«Es ist aber offensichtlich, dass der Hauptnutzniesser [der Pipeline-Explosionen], vor allem wirtschaftlich, die USA sind», sagte der Sekretär des nationalen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, der Nachrichtenagentur Interfax zufolge am Freitag auf einer Sitzung mit den Geheimdienstchefs der GUS-Staaten.
Der Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes, Sergej Naryschkin, behauptete unterdessen, Moskau verfüge über Material, das auf eine «westliche Spur bei der Organisation und Durchführung der «Terroranschläge» auf die Nord Stream-Pipelines hinweise. Er beschuldigte den Westen, «alles zu tun, um die wahren Urheber und Organisatoren dieses internationalen Terrorakts zu verbergen».
Dieses Narrativ wird auch in Ungarn aufgegriffen. Die regierungsnahe Budapester Tageszeitung «Magyar Nemzet» kommentierte: «Irgendjemand hat eine Pipeline in die Luft gejagt. Gezündelt wird auch auf dem Balkan, in Nahost und im Iran. Die amerikanischen Geheimdienste machen wiederum ihren Job. Im Iran wird seit Wochen demonstriert. Weil irgendjemand Feuer gelegt hat. Überall werden Feuer gelegt.»