Russische Journalistin Owsjannikowa sieht sich in «Informationskrieg» gefangen
Die russische Journalistin Marina Owsjannikowa sorgte weltweit für Aufsehen, als sie eine Nachrichtensendung mit einem Antikriegs-Plakat unterbrach. Die Journalistin floh ins Ausland, doch auch im Exil hat sie es schwer, weil ihr viele misstrauen.
23.06.2022
Die russische Journalistin Marina Owsjannikowa wurde berühmt, als sie in den Hauptnachrichten im russischen TV gegen den Krieg in der Ukraine protestierte. Inzwischen lebt sie im Exil – und wird mit dem Tod bedroht.
Als die russische Journalistin Marina Owsjannikowa während der Hauptausgabe der russischen Nachrichten das TV-Studio stürmte, um gegen den Krieg in der Ukraine zu protestieren, rechnete sie mit heftigen Repressalien in Russland – und floh ins Exil. Dort Fuss zu fassen, ist schwierig, aber eine Rückkehr nach Russland zu ihren elf und 17 Jahre alten Kindern kommt für die 43-Jährige derzeit nicht infrage; sie fürchtet, in diesem Fall direkt im Gefängnis zu landen.
Im Exil schlagen der Journalistin nicht nur Sympathien entgegen. Ihre Gegner werfen Owsjannikowa vor, ungeachtet ihres mutigen Protestes gegen den Krieg sei sie nun als russische Spionin unterwegs und somit Teil der russischen Propaganda-Maschine. «Ich stecke mitten in diesem Informationskrieg», sagte Owsjannikowa in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP in Berlin.
Dort hielt sie diese Woche eine Rede beim Treffen des internationalen Frauennetzwerks Women's Forum for the Economy and Society. «Es ist wirklich eine sehr schwierige Situation für mich. Ich hätte so etwas nie erwartet nach meinem Protest», sagte sie. Owsjannikowa kam als Tochter einer russischen Mutter und eines ukrainischen Vaters in Odessa zur Welt. Bis März arbeitete sie als Redaktorin für das russische Staatsfernsehen.
In Russland droht ihr eine lange Haftstrafe
Zweieinhalb Wochen nach Beginn des russischen Angriffskrieges sorgte sie für internationale Schlagzeilen: Sie tauchte während der Hauptnachrichtensendung «Wremja» des Senders Perwy Kanal plötzlich hinter der Nachrichtensprecherin auf – und hielt ein Schild mit den englischen Worten «No War» (Kein Krieg) und der kyrillischen Aufschrift «Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen» in die Kamera. Dabei rief sie «Stoppt den Krieg!», bevor die Liveübertragung abgebrochen wurde.
Ihr Protest in den streng kontrollierten russischen Staatsmedien war aussergewöhnlich – und Owsjannikowa bezahlte für ihren Mut: Sie wurde festgenommen, stundenlang verhört und ihr wurde eine Geldstrafe von 30'000 Rubel (rund 500 Franken) auferlegt. Nun droht der Journalistin in ihrer Heimat eine lange Haftstrafe.
Unmittelbar nach ihrer Protestaktion wurde Owsjannikowa im Westen als Heldin gefeiert. In Deutschland heuerte «Die Welt» sie als freie Korrespondentin an. Dort arbeitet sie nach Angaben einer Sprecherin inzwischen nicht mehr. Redaktionskreisen zufolge hat es «einfach in der konkreten Zusammenarbeit und den täglichen Arbeitsabläufen, die für beide Seiten auch neu waren, nicht gepasst».
Ukrainer*innen trauen ihr nicht
Anfang Juni reiste Owsjannikowa in die Ukraine, um von dort für russische Medien über den Krieg zu berichten. «Ich wollte den Russen zeigen, was wirklich in Butscha passiert ... um dem russischen Volk zu erklären, was wirklich in der Ukraine geschieht, vielleicht ein Interview mit (dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr) Selenskyj aufnehmen», berichtete sie.
Doch in der Ukraine sei ihr Feindseligkeit entgegengeschlagen. Sie sei verdächtigt worden, heimlich weiter für Russland zu arbeiten. «Ukrainer trauen ihrem plötzlichen Sinneswandel nicht», erklärte die ukrainische Journalistin Olga Tokariuk, Mitarbeiterin am Center for European Policy Analysis, im Kurzbotschaftendienst Twitter. Owsjannikowas in Online-Netzwerken veröffentlichte Berichte von der Front seien «manipulativ, inkorrekt und bevormundend».
Rückkehr nach Russland steht derzeit ausser Frage
Owsjannikowa hat einen grossen Teil ihrer Kindheit in Grosny verbracht, Hauptstadt der Kaukasus-Republik Tschetschenien und Schauplatz zweier Kriege. «Als ich Kind war, wurde unser Haus in Grosny zerstört. Ich glaube also zu verstehen, was ukrainische Frauen und Kinder jetzt fühlen», sagt sie. «Vielleicht dauert es ein paar Monate, bis die Menschen in der Ukraine anfangen zu verstehen, dass es auch gute Russen gibt, die gegen den Krieg protestieren.»
Für ihre Zukunft hofft sie auf einen neuen Job. Jetzt nach Russland zurückzukehren, steht für sie jedoch ausser Frage. «Meine Freunde fragen mich, ob ich Vergiftung oder einen Autounfall bevorzugen würde», sagt sie – um dann beim Anblick der erschrockenen Gesichter im Raum zu erklären: «Ohne Humor ist es in meiner Situation unmöglich zu leben.»