Syrien-Türkei Eine Flüchtlingskrise, wie von Erdogan vorhergesagt

Von Philipp Dahm

3.3.2020

Im Dezember warnt der türkische Präsident Erdogan vor einer Flüchtlingskrise und beschreibt aus seiner Sicht jene, die sie herbeibomben. Europa hat sich taub gestellt, muss nun aber reagieren, sonst wird es wie 2015.

Es ist eine Krise mit Ansage. Denn bereits zwei Tage vor Weihnachten hat Ankara mit der Alarmglocke geläutet: Der Türkei könnte die Flüchtlingskrise über den Kopf wachsen, warnte Präsident Recep Tayyip Erdogan damals in Istanbul.

«Wenn die Gewalt gegen die Menschen in Idlib nicht aufhört, wird die Zahl [der Flüchtenden] weiter steigen. In diesem Fall kann die Türkei die Last der Migration nicht mehr alleine tragen.»

Mit 3,7 Millionen Syrern beherbergt die Türkei die meisten Geflüchteten weltweit – und in der umkämpften Region leben potenziell drei weitere Millionen, die der Krieg vertreiben könnte.

«Die Folgen des Drucks, dem wir ausgesetzt sind, werden alle europäischen Nationen und insbesondere Griechenland spüren.» Erdogan fügte an, er werde alles tun, um die russischen Luftangriffe auf Idlib zu stoppen. Das war am 22. Dezember 2019.

Es kommt, wie Erdogan es vorhergesagt hat. Verstärkte Luftangriffe auf Ziele sorgten noch Ende des Jahres für Tod und Vertreibung in der Region: Eine Stadt wie Maarat al-Numan sei so intensiv bombardiert worden, dass sämtliche der 70'000 Einwohner geflohen seien, berichtet das türkische Newsportal «Ahval» – es gilt als liberal. Und: 200'000 Menschen seien seit Mitte Dezember zur türkischen Grenze unterwegs.

Flüchtlinge erreichen beim Dorf Skala Sikaminias am 2. März die Insel Lesbos.
Flüchtlinge erreichen beim Dorf Skala Sikaminias am 2. März die Insel Lesbos.
Bild: Keystone

Der Westen reagiert mit Appellen. Die USA hatten zuvor ihre Soldaten abgezogen – einmal abgesehen von jener Einheit, die ein Ölfeld sichert. Mitte Januar halten jene Gis angeblich russische Einheiten davon ab, dorthin vorzudringen, berichtete die «Washington Times». Eine Eskalation mit Moskau versuchten alle Parteien aber tunlichst zu vermeiden – nicht zuletzt aus Respekt vor der russischen Luftabwehr.

«Horrorgeschichte des 21. Jahrhunderts»

So hat Syriens Diktator Bashar al Assad mit seinen Verbündeten freie Bahn: Sie treiben «die mehr als drei Millionen Menschen in Idlib auf immer kleinerem Raum zusammen, bei eisigen Temperaturen Welle um Welle von Fliehenden vor sich [hertreibend]», beschreibt der «Spiegel» die Geschehnisse der vergangenen Wochen.

Gleichzeitig mehren sich Berichte über gezielte Angriffe auf Zivilisten – der UN-Nothilfekoordinator Mark Lowcock spricht bereits von der «fürchterlichsten Horrorgeschichte des 21. Jahrhunderts». Der Druck auf Erdogan steigt wie vorhergesagt – auch, weil seine eigenen Truppen in Syrien unter Beschuss kommen.

Am 4. Februar muss Ankara den Tod der ersten sieben Soldaten in Syrien vermelden – und zum Ende des Monats trifft es die Armee dann noch schlimmer: Mindestens 34 Soldaten kommen am 27. Februar bei einem Luftangriff in Idlib ums Leben.

Und genau an diesem Tag teilt ein hoher Beamter der Nachrichtenagentur «Reuters» mit, die Türkei werde syrische Flüchtende auf ihrem Weg nach Europa nicht mehr stoppen.

Allein dieser Vorgang ist schon bemerkenswert.

Was Obama sich nicht traute

Gleichzeitig geht Ankara militärisch in die Offensive und greift nach eigenen Angaben «alle bekannten Ziele» in Syrien an. Dabei setzt die Armee auf einen «Schwarm von Killerdrohnen» – sie werden den Unterschied ausmachen: Die ferngesteuerten Fluggeräte aus eigener Produktion sollen acht Helikopter, 103 Panzer und 72 Geschütze zerstört haben, kolportiert zumindest die türkische Armeeführung. 

«Am Sonntagnachmittag war innerhalb weniger Stunden erreicht, was Barack Obama als zu gefährlich verworfen hatte: die Schaffung einer Flugverbotszone», staunt der «Spiegel». «Keine Luftattacken mehr auf Wohnviertel, Krankenhäuser, Märkte oder, wie zuletzt noch vor Tagen, zehn Schulen in einer Angriffswelle.»

Angeblicher Abschuss einer russischen Su-24 durch türkische F-16.

Erdogans Taktik, selten Russland direkt für die Zustände in Syrien anzuprangern, zahlt sich nun aus. Zuletzt sagte er sogar, Wladimir Putin könne bei den nächsten Verhandlungen hoffentlich eine Waffenruhe durchsetzen. Vorerst sind die Menschen in Idlib aus dem Gröbsten heraus.

Europa unvorbereitet

Doch diejenigen Syrer, die bereits in der Türkei sind, haben vernommen, dass die Grenzen nach Europa geöffnet werden sollen. Und Griechenland spürt den Migrationsdruck bereits – so wie Erdogan es prophezeit hat. Auf der Insel Lesbos landen nicht nur wieder mehr Flüchtlingsboote, sondern es zieht auch rechtsradikale Griechen auf die Insel. Sie wollen Flüchtende abhalten, verprügeln Journalisten und machen Jagd auf NGO-Mitarbeiter.

Präsident Erdogan hat dagegen am Montag in Ankara noch einmal bekräftigt, dass die «Zeit der türkischen Selbstaufopferung» vorüber sei. «Seit wir die Grenzen geöffnet haben, hat die Zahl der Flüchtenden, die nach Europa wollen, die Hunderttausende erreicht. Es könnten bald Millionen sein.»

«Eine Situation wie die des Sommers 2015 kann, soll und darf sich nicht wiederholen» – so formulierte es selbst die Kanzlerin Merkel bei ihrer Rede vor dem CDU-Parteitag in Essen Ende 2016. Inwiefern diesmal humanitäre Lösungen gefunden werden können, man wird sehen.

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