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Flucht aus Odessa «Ich habe drei Stunden geweint, weil ich nicht wegwollte»
Von Gil Bieler
15.3.2022
Fliehen oder bleiben, und wo ist es überhaupt noch sicher? Der Krieg in der Ukraine stellt die Menschen vor Entscheidungen, die aus Schweizer Sicht schwer zu fassen sind. Das zeigt das Beispiel einer Lehrerin aus Odessa.
Sie hielt so lange wie möglich in Odessa aus. Doch jetzt war auch für Anastasiia Korinenko der Zeitpunkt erreicht, an dem sie fliehen musste. «Wir wussten einfach nicht, was kommt. Vor Kurzem haben sie angefangen, militärische Ziele in der Umgebung zu bombardieren.» Mit «sie» meint Korinenko die russischen Truppen – doch sie spricht das gesamte Telefonat lang immer nur von «ihnen», nie von «den Russen».
Mit dem Auto flohen Korinenko, ihre Mutter und ihr jüngerer Bruder Richtung Westen, auch ihre Katze kam mit. Nur die Grossmutter ist in Odessa geblieben: «Sie weigerte sich, zu gehen. Sie meinte: ‹Was soll ich fliehen? Das ist das einzige Zuhause, das ich habe.›» Es habe sie sehr geschmerzt, ihre knapp 80-jährige Grossmutter zurückzulassen. Was auch ein Grund ist, dass Korinenko im Land bleiben will: «Wenn sie es sich anders überlegt, will ich zurückfahren können und sie rausholen.»
Das ist eine Überlegung, aber nicht die einzige. «Ich will die Ukraine nicht verlassen. Das ist mein Land, meine Heimat», sagt die Englischlehrerin, als blue News sie telefonisch erreicht. «Wenn du zu etwas gezwungen wirst, dann weigerst du dich doch.»
Tränenreiche Entscheidung
Dem Entscheid zur Flucht gingen belastende Stunden und Tage voraus. Ihr Vater wollte, dass sie und ihr Bruder mit dem Zug nach Lwiw ganz im Westen der Ukraine fliehen, danach über die Grenze. Nach Rumänien, Moldawien, Polen, irgendwohin. «Wir mussten schnell entscheiden, weil der Zug in drei Stunden abfuhr», erzählt Korinenko. Der Druck muss immens gewesen sein: «Ich habe drei Stunden lang nur geweint, weil ich nicht wegwollte.» Der Zug fuhr am Ende ohne die Familie los.
Stattdessen brachen sie nächstentags mit dem Auto auf. Sie wählten einen Weg über Nebenstrassen, um dem Stau zu entgehen. Es wurde eine beschwerliche, lange Reise. Die Strassen waren nicht besonders gut in Schuss, häufig mussten sie an Checkpoints des Militärs halten. «Wir brauchten vier Tage, um in die Karpaten zu kommen. Vier Tage! Normal braucht man nur einen.» Übernachten konnten sie jeweils bei Freunden entlang der Route. Kurz schlafen, schon ging es weiter. Und die Einschläge kamen näher.
«Am selben Tag, als wir aus Winnyzja losfuhren, attackierten sie dort einen Stützpunkt der Luftwaffe», sagt Korinenko. «Das war ein Schock.» In ihrer temporären Unterkunft in den Bergen fühlt sie sich sicher. Es gebe keine Gefechte, alles sei ruhig. «Doch man weiss nie, die Situation kann sich innert nur eines Tages verändern.»
Odessa war bisher kein Ziel von Angriffen. Die Situation in ihrer Heimatstadt sei verhältnismässig stabil gewesen, sagt Korinenko. Im Supermarkt habe zwar manchmal etwas gefehlt, weil die Menschen in der Panik Hamsterkäufe getätigt hätten. «Aber die Situation ist okay. Es ist immer noch sicher im Vergleich zu anderen Städten.»
Sie wählt den Vergleich mit Mariupol: Die Grossstadt ist besonders heftig umkämpft, Bilder von zerstörten Gebäuden gehen um die Welt, die Evakuierung ist bereits mehrfach gescheitert. Korinenko ist in Mariupol geboren und aufgewachsen, hat dort bis heute viele Kontakte. «Ein paar meiner Freunde mussten neun Tage in einem Schutzbunker ausharren. Können Sie sich das vorstellen?» Die Stadt werde gerade «von der Landkarte getilgt».
Vorausplanen ist unmöglich. «Ich muss es Tag für Tag nehmen.» Natürlich hoffe sie, dass sie bald wieder in ihre Wohnung nach Odessa zurückkehren könne. Doch der Verlauf des Krieges sei schwierig vorherzusehen.
Und auch wenn sie sich in den Karpaten in Sicherheit wiegt: «Wirklich sicher ist man nirgendwo mehr in der Ukraine. Nichts ist ihnen heilig, das zeigen die Attacken auf Wohngebiete.» Die UNO hat Stand Montag den Tod von 636 Zivilpersonen bestätigt, die seit Beginn der russischen Invasion gestorben sind.
Abzocker am Werk
Auch Korinenko muss sich mittlerweile Gedanken darüber machen, wohin sie im Fall der Fälle ins Ausland fliehen würde – auch wenn ihr das hörbar widerstrebt. Doch innerhalb der Ukraine umzuziehen, sei allein logistisch nicht immer einfach: «Leider sind viele Betrüger am Werk», berichtet Korinenko. Auch sie habe schon eine Anzahlung für eine Unterkunft bezahlt, die es am Ende gar nicht gab. Ein Ärgernis. Mittlerweile sei die Bevölkerung aufgerufen, solche Abzocker den Behörden zu melden.
Die Lehrerin hat gerade online eine erste Englischlektion durchgeführt, was aber nur teilweise gelungen sei. Zum einen wegen der Internetverbindung, zum anderen habe sie nicht so tun können, als wäre alles normal. «Das habe ich nicht geschafft.»