Gewalt bei Protesten im Iran – Fussballer singen Hymne nicht
Das iranische Nationalteam in Katar schweigt während der Nationalhymne demonstrativ. Grund dürften die anhaltend Proteste in dem Land gegen das konservativ-religiöse System der Islamischen Republik sein. Der iranische Staatssender unterbrach seine Live-Übertragung bei der Hymne – den Spielern könnten nun Konsequenzen drohen.
22.11.2022
Das Fussball-Team des Irans hat an der WM in Katar Flagge gezeigt. Doch weil das Verweigern der Hymne eine Ohrfeige für die Mullahs ist, müssen die Sportler nun mit jeder Menge Druck und schweren Strafen rechnen.
Es ist das beherrschende Thema des zweiten Spieltages der Fussball-WM. Nicht der Sieg der Niederlande gegen Senegal oder das Unentschieden zwischen den USA und Wales, sondern das Spiel zwischen dem Iran und England. Beziehungsweise das, was am Anfang des Matches passiert.
Die iranische Mannschaft bleibt beim Vortrag ihrer Hymne stumm. Das Kollektiv steht mit versteinertem Gesicht in einer Reihe. Das Singen der Hymne ist eigentlich Pflicht: Das iranische Fernsehen wechselt in dem Moment die Perspektive, schaltet auf die Kamera auf die Totale um und dann ab, um zu kaschieren, dass sich die Spieler verweigern.
Auch iranische Fans solidarisieren sich mit den Protesten in ihrem Land: Vor dem Stadion rufen sie «Tod dem Diktator», «Frau, Leben, Freiheit» und «Freiheit für den Iran». Doch während diese hoffen können, mit einem blauen Auge davonzukommen, müssen die Sportler mit ernsten Konsequenzen rechnen.
Familie von Sportlerin bedroht
Wohin die Reise für sie geht, zeigt das Beispiel von Elnaz Rekabi. Die Klettererin hatte es gewagt, bei den Asienmeisterschaften 2022 in Seoul ohne Kopftuch anzutreten. Anschliessend verschwinden die 33-Jährige und ihr Team: Sie reisen überstürzt aus der südkoreanischen Hauptstadt ab. Rekabi wird der Ausweis abgenommen. In einem kurzen Statement sagt sie, sie sei nicht bewusst ohne Kopftuch angetreten.
Iran: Kletterin Rekabi von jubelnder Menge empfangen
Nach ihrer Teilnahme ohne Kopftuch an einem Kletter-Wettkampf in Südkorea ist die iranische Sportlerin Elnas Rekabi am Flughafen in Teheran von einer jubelnden Menschenmenge begrüsst worden.
19.10.2022
Nach ihrer Rückkehr in den Iran wird die Sportlerin unter Hausarrest gestellt, berichtet BBC. Ihre Entschuldigung sei erzwungen worden, heisst es weiter: Angeblich wurde ihr gedroht, man werde ihrer Familie Grundstück und Habe entziehen, wenn sie nicht folgt. Es ist also im Bereich des Möglichen, dass auch die Fussballer zur Räson gebracht werden, indem man ihre Familie bedroht.
Es kann aber auch noch schlimmer kommen, wie der Fall von Navid Afkari zeigt. Der Wrestler nimmt 2018 mit zwei Brüdern an einer Demonstration gegen die Regierung teil. Die Brüder werden Mitte September verhaftet: Angeblich unter Folter gesteht der damals, beim Protest ein Mitglied der Basidsch-Miliz erstochen zu haben.
«Es ist klar, was diesen Athleten potenziell passieren kann»
Seine Brüder bekommen 54 und 27 Jahre Haft, doch gegen Navid Afkari selbst wird ein Todesurteil ausgesprochen, das am 12. September 2020 vollstreckt wird. Das Begräbnis in seinem Heimatdorf in der folgenden Nacht findet mit vielen Sicherheitskräften, aber ohne die Familie des Sportlers statt.
«Die Realität ist», sagt Rob Koehler, Generaldirektor der Organisation Global Athlete, gegenüber «The Star»: «Es ist ein brutales Regime, das keine Gefangenen macht. Wenn du dich gegen sie erhebst, wissen wir, was passiert, nach dem, was sie in den letzten Jahren getan haben.» Und weiter: «Ich denke, es ist klar, was diesen Athleten potenziell passieren kann.»
Sich diesem Druck zu widersetzen, können sich nicht viele leisten. Ali Daei ist so eine Ausnahme: Der frühere Stürmer des FC Bayern München ist in seinem Land eine Legende. Der heutige Geschäftsmann hat eine FIFA-Einlandung nach Katar abgelehnt. Stattdessen solidarisiert er sich öffentlich mit den Demonstranten im Iran.
Daei und Karimi wegen Solidarität verzeigt
Im Oktober wird er deswegen verhaftet, später jedoch freigelassen. Auch sein früherer Profi-Kollege Ali Karimi, der in Dubai lebt, bekommt wegen Solidaritätsbekundungen Ärger mit der Justiz – und wird in Abwesenheit wegen Beförderung der Unruhen verurteilt. Sein Haus in der Region von Teheran wird konfisziert.
Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte hat die Lage im Iran angesichts wachsender Gewalt als kritisch bezeichnet. «Wir rufen die Behörden auf, auf die Forderungen der Menschen nach Gleichberechtigung, Würde und Rechten einzugehen, anstatt die Proteste mit unnötiger oder unverhältnismässiger Gewalt zu unterdrücken», teilt Volker Türks Büro heute in Genf mit.
Am Donnerstag findet zur Lage im Iran auf Antrag von Deutschland und Island eine Sondersitzung des UN-Menschenrechtsrats statt. Die Länder haben eine Resolution eingereicht, in der die Einrichtung einer Kommission zur näheren Untersuchung der Lage gefordert wird. Darüber sollen die 47 Mitgliedsländer des Rates abstimmen.
Kurden im Visier
Nach Informationen des UN-Menschenrechtsbüros ist die Präsenz der Sicherheitskräfte in kurdischen Städten in den vergangenen Tagen deutlich erhöht worden. In der vergangenen Woche seien in kurdischen Städten mehr als 40 Menschen umgekommen, hiess es. Das Büro prangert auch an, dass die Behörden offenbar die Freigabe von Leichen von Getöteten an Bedingungen knüpfen.
Feuer bei Protesten im Iran
Feuer auf den Strassen von Fuladschar. Diese Bilder sollen nach Angaben eines Regierungskritiker-Netzwerks am Donnerstag bei Protesten in der zentraliranischen Stadt aufgenommen worden sein. Unter anderem ist zu sehen, wie eine Person ein Strassenschild in Brand steckt. Über soziale Netzwerke wurden auch Videoclips aus der Stadt Khomein, südlich der Hauptstadt Teheran verbreitet. Angeblich ist darauf zu sehen, wie das Haus des verstorbenen Gründers der Islamischen Republik, Ayatollah Khomeini, in Flammen steht.
22.11.2022
Familien werden nach diesen Angaben aufgefordert, nicht mit Pressevertretern zu sprechen oder die Todesgründe zu verschleiern. «Wir erinnern die iranischen Behörden daran, dass sie nach den internationalen Menschenrechten verpflichtet sind, das Recht auf friedliche Versammlung und das Recht auf freie Meinungsäusserung zu achten und zu gewährleisten», teilte das Büro mit.
Seit Beginn der Proteste im Iran Mitte September sind nach Angaben des UN-Menschenrechtsbüros mehr als 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer ums Leben gekommen, darunter mehr als 40 Minderjährige. Nach iranischen Angaben seien auch einige Angehörige der Sicherheitskräfte umgekommen. Tausende seien festgenommen und sechs Personen wegen der Proteste zum Tode verurteilt worden.
Mit Material von dpa.