Stimmen aus einem Londoner Pub «Eine idiotische Farce» – «Truss' Unfähigkeit war spektakulär»

Von Hanspeter «Düsi» Künzler, London

21.10.2022

Grossbritannien: Premierministerin Truss wirft das Handtuch

Grossbritannien: Premierministerin Truss wirft das Handtuch

Nach nur sechs chaotischen Wochen im Amt hat die britische Premierministerin Liz Truss ihren Rücktritt angekündigt und geht damit als Premierminister mit der kürzesten Amtszeit in die britische Geschichte ein.

20.10.2022

Klägliche 44 Tage lang durfte Liz Truss Premierministerin von Grossbritannien sein. Dann hatten die eigenen Parteikolleg*innen genug und erzwangen ihren Rücktritt. Im Pub geht das Leben weiter.

Von Hanspeter «Düsi» Künzler, London

Zum Glück sind die Briten Weltmeister im Galgenhumor. Sonst wäre in den Strassen heute der Teufel los. Nach 44 Tagen musste Liz Truss gestern Donnerstag ihr Amt als Premierministerin niederlegen. Das ist einsamer Kurzlebigkeitsrekord.

Der frühere Rekordhalter George Canning brachte es vor knapp hundert Jahren immerhin auf 119 Tage, ehe er das Zeitliche segnete. In ihrer kurzen Amtszeit schaffte es Truss, dermassen viele Fehlentscheidungen zu treffen, dass nicht nur die eigene Glaubwürdigkeit, sondern auch die ihrer Partei, den Conservatives alias Tories, ruiniert ist.

36 Prozentpunkte liegen sie gemäss neuesten Umfragen hinter der Labourpartei zurück. Wenn morgen Wahlen durchgeführt würden, müssten sie ein Gemetzel über sich ergehen lassen. Mit dem erzwungenen Rücktritt haben sie Zeit gewonnen.

Wandelndes Symbol für die Malaise

Aber ein Ende des Chaos ist nicht abzusehen. Wer zum Beispiel wird sie ersetzen? Wie sollen die Schulden bezahlt werden, die durch den von ihren Steuerplänen ausgelösten Absturz des Londoner Finanzmarktes entstanden sind? Was passiert mit der grassierenden Inflation und den untragbaren Lebenskosten, solange die zerstrittene Regierungspartei vor allem damit beschäftigt ist, sich selber zu zerfleischen?

Zur Person

Der Zürcher Journalist Hanspeter «Düsi» Künzler lebt seit bald 40 Jahren in London. Er ist Musik-, Kunst- und Fussball-Spezialist und schreibt für verschiedene Schweizer Publikationen wie blue News und die NZZ. Regelmässig ist er zudem Gast in der SRF3-Sendung «Sounds».

Eines muss man Truss zugutehalten: Sie hat geschafft, was weder der oppositionellen Labour-Partei noch den Tories gelungen ist, seit die Brexit-Abstimmung vor sechs Jahren einen tiefen Keil ins Gefüge der britischen Gesellschaft geschlagen hat: Sie hat ihre Untertanen zusammengeführt in der Überzeugung, dass sich etwas ändern muss.

Pech für sie, dass sie als wandelndes Symbol für die Malaise als Erste den Kragen verliert. Selbst in meinem traditionell liberal und pro-Labour eingestellten Londoner Quartier Kilburn war der Besuch im Pub im Vorfeld der Brexit-Abstimmung ein riskantes Unterfangen. Die Kommunikation zwischen den beiden Lagern war schwierig. Alte Kumpel sprachen monatelang nicht mehr miteinander. Gestern Abend war alles anders.

«Truss war ein von Labour ausgesandtes trojanisches Pferd»

Sobald mir Maggie das Bier hingestellt hat, frage ich in die Runde: «Wie seht ihr das mit Truss?» Maggie gluckst kurz vor sich hin und entgegnet: «Jedes Wort würde mich reuen.» Kris, dank des Sieges von Arsenal in bester Laune, macht nur: «Pffft!» Es fallen allerhand Kraftausdrücke. John, damals Brexit-Befürworter, bleibt höflich: «Eine idiotische Farce.»

Steve, der liebenswürdige Gelegenheitsarbeiter, der Politiker*innen sowieso verachtet, meint: «Immerhin haben wir eine neue Touristenattraktion – statt «Changing of the Guards», «Changing of the Prime Ministers». Enda, ein Schriftsteller, präsentiert eine Theorie: «Truss war ein von der Labour-Partei ausgesandtes trojanisches Pferd. Ihre Unfähigkeit war spektakulär.»

Die britische Premierministerin Liz Truss gibt am 20. Oktober 2021 in der Downing Street ihren Rücktritt bekannt.
Die britische Premierministerin Liz Truss gibt am 20. Oktober 2021 in der Downing Street ihren Rücktritt bekannt.
Bild: Keystone

«Erstaunlich, dass es so lang gegangen ist», meint IT-Experte Pete. Kris zeigt das Handy herum. Im Internet wimmelte es von schlauen Memes. Eines zeigt ein beliebtes Geschirrspülmittel, daneben der Spruch: «Eine Flasche reicht länger als drei Tory-Premiers.» Ein anderes zeigt die Pforten von 10 Downing Street: «Air B&B – perfekt für kurze Aufenthalte im Zentrum von London».

Nicht eine einzige Person im Pub zeigt einen Hauch von Sympathie für Truss. Bestimmt haben einige für die Tories gestimmt – ebenso bestimmt werden sie es beim nächsten Mal nicht mehr tun. Aber heute Abend sind Truss und ihre konservativen Kolleg*innen nur eines: Kanonenfutter für den Galgenhumor.

«Zum ersten Mal gehe ich mit den Russen einig!»

«Zum ersten Mal in meinem Leben gehe ich mit den Russen einig!» brüllt Richard, der als Student in den 90er Jahren ein Jahr in Moskau verbracht hat. Er zeigt uns den Youtube-Clip der Sprecherin des russischen Aussenministeriums, die Truss als «katastrophal analphabetisch» beschreibt.

Die Stimmung im Pub spiegelt sich sogar in den üblicherweise tunlichst unlustigen Berichten am Fernsehen wider. So trabte die BBC nach Greenwich, wo Liz Truss ihre politische Karriere als Gemeinderätin begann, und sammelte Reaktionen auf den Abgang der noch vor drei Tagen so selbstsicheren Premierministerin.

Zufälligerweise wurden die Interviews von einem Wolkenbruch begleitet, und so bekamen wir immer wieder Close-ups von reissendem Wasser zu sehen, das am Strassenrand in den Dolen verschwand. Wie ein roter Faden verband eine Aussage all die Beiträge am Fernsehen und die spöttischen Kommentare im Pub: «Wir brauchen unbedingt neue Unterhauswahlen.»

Die Forderung ist absolut nachvollziehbar. Stellt aber die britische Politik vor eine unlösbare Aufgabe: Im Namen der politischen Integrität müssten die Tories dem Ruf unbedingt Folge leisten. Aber sie wissen: wenn sie es jetzt tun, werden sie an der Urne vernichtet. Wenn sie es nicht jetzt tun, können sie nur darauf hoffen, dass bis Januar 2025, wenn vom Gesetz her die nächsten Wahlen spätestens fällig sind, ein Wunder geschieht.

Liz Truss am 19. Oktober 2022 im britischen Parlament: Bis zuletzt kämpfte die Premierministerin um ihr Amt – zum Schluss wurde der Druck aus den eigenen Reihen aber zu gross.
Liz Truss am 19. Oktober 2022 im britischen Parlament: Bis zuletzt kämpfte die Premierministerin um ihr Amt – zum Schluss wurde der Druck aus den eigenen Reihen aber zu gross.
Bild: Keystone