Afghanistan leidet schon seit langem immer wieder unter Trockenperioden. Doch der Klimawandel verschärft die Lage. UN-Experten warnen vor einem «Kipppunkt zur Katastrophe».
AP/toko
10.12.2021, 20:20
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Hadschi Wali Dschan trägt ein halbes Dutzend Plastikbehälter zu dem Brunnen in Kamar Kalagh. Es ist Freitag, einer der wenigen Tage in der Woche, an der der 66-Jährige und seine Nachbarn die Wasserquelle benutzen dürfen. Als er endlich an der Reihe ist, befüllt Wali Dschan erst eines der Gefässe, dann ein zweites. Der Wasserstrahl aus dem Zapfhahn wird dünner. Dschan greift einen weiteren Container, doch das Wasser versiegt, bevor dieser voll ist. Der Brunnen ist leer für diesen Tag.
Grund ist die grösste Dürre in Afghanistan seit Jahrzehnten, die jetzt das zweite Jahr in Folge anhält und durch den Klimawandel verstärkt wird. Betroffen sind 25 der insgesamt 34 Provinzen des Landes. Bei der Weizenernte werden in diesem Jahr Verluste von 20 Prozent im Vergleich zu 2020 erwartet.
«Kipppunkt zur Katastrophe»
Neben den Kämpfen im Land hat die Trockenheit dazu beigetragen, dass mehr als 700'000 Menschen in diesem Jahr aus ihren Häusern vertrieben wurden. Der einsetzende Winter wird die Lage für sie weiter verschlimmern. Die kumulativen Folgen «für bereits geschwächte Gemeinden können ein weiterer Kipppunkt zur Katastrophe sein», erklärte das Afghanistan-Büro der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO am Dienstag in einem Tweet. «Wenn nichts dagegen unternommen wird, könnte die Landwirtschaft zusammenbrechen.»
Für die Probleme machen UN-Experten das Wetterphänomen La Niña Ende 2020 verantwortlich, das Witterungsverläufe auf der ganzen Erde verändern kann. Deswegen gingen ihrer Ansicht nach Anfang 2021 in Afghanistan die Regen- und Schneefälle zurück. Die Experten rechnen damit, dass dies ins Jahr 2022 hinein andauern wird.
Afghanistan ist zwar schon seit langem reguläre Dürren gewohnt. Aber die FAO warnte 2019 in einem Bericht, dass diese infolge des Klimawandels häufiger und intensiver werden könnten. Die Trockenperiode des vergangenen Jahres folgte auf eine von 2018, die bis dato die schwerste im Land seit Jahren war.
Inmitten der Dürre brach nach der Machtübernahme der Taliban im August die afghanische Wirtschaft zusammen. Internationale Mittel für die Regierung wurden gesperrt und Milliardenvermögen des Landes im Ausland eingefroren. Arbeitsplätze und Existenzgrundlagen schwanden, vielen verzweifelten Familien fehlt es an Lebensmitteln. Wie die FAO im November mitteilte, können sich 18,8 Millionen Afghanen nicht selbst täglich ernähren. Bis Ende des Jahres wird die Zahl demnach auf 23 Millionen steigen, das sind fast 60 Prozent der Bevölkerung.
Schon von der Trockenheit 2018 schwer getroffene Dörfer wie Kamar Kalagh schrumpfen nun weg, da ihnen das Wasser zum Überleben fehlt. In der Ortschaft in den Bergen ausserhalb der westafghanischen Stadt Herat wohnen etwa 150 Familien. Sie lebten einst von ihrem Vieh, vor allem Kamelen und Ziegen, und den Gehältern von Bewohnern, die am Grenzübergang Islam Kala zum Iran arbeiteten. Auch diese Jobs sind weitgehend weggefallen. Jetzt ist der Verkauf von Sand die Haupteinnahmequelle des Dorfes.
Adschab Gul und seine beiden kleinen Söhne gehören zu denjenigen, die den Sand aus dem Flussbett graben und in Säcke füllen. Mit der Arbeit eines ganzen Tages verdienen sie umgerechnet etwa 1,80 Euro. «Früher ist das Gras einmal bis hierher gewachsen», erzählt Gul. «Wenn ein Kamel durchging, konnte man nur seinen Kopf sehen. Das war vor 20 Jahren.» Heute gibt es hier kein Gras mehr und so gut wie kein Vieh.
Vor zwei Jahren war der grösste Brunnen des Dorfes versiegt. Die Bewohner legten zusammen, um ihn tiefer graben zu lassen. Das funktionierte eine Zeitlang. Doch bald schwächelte die Wasserquelle wieder. Seitdem gilt ein Rationierungssystem: Die Hälfte des Dorfes darf an dem einen Tag Wasser holen, die andere am nächsten. Doch selbst diese Beschränkung reicht nicht mehr aus. Das Wasser aus dem Brunnen genügt nur für etwa zehn Familien am Tag, wie Wali Dschan sagt.
Mit der Schubkarre Wasser holen
Als er seine Kanister nicht alle befüllen kann, schickt er zwei seiner Enkel mit einer Schubkarre zu einer anderen Quelle in etwa drei Kilometern Entfernung. Mit Mühe finden die Jungen eine Lache stehenden Wassers im Flussbett, aus der sie ihre Behälter füllen können.
Ältere und kleine Jungen sind fast die einzigen männlichen Bewohner, die noch im Dorf verblieben sind. Die meisten Männer im arbeitsfähigen Alter sind weggegangen, um andernorts in Afghanistan, im Iran, in Pakistan oder der Türkei nach Arbeit zu suchen. «Tagsüber ist kaum noch jemand draussen zu sehen», sagt der Bewohner Samar Gul, ein weiterer Mann in seinen 60ern. «Es sind nur noch Frauen und Kindern in den Häusern.»