Geboren im Grauen Ein Baby in Mariupol

Von Mstyslav Chernov, AP

13.3.2022 - 12:15

Mariana Vishegirskaya liegt nach der Geburt ihrer Tochter Veronika in einem Krankenhausbett in Mariupol
Mariana Vishegirskaya liegt nach der Geburt ihrer Tochter Veronika in einem Krankenhausbett in Mariupol
AP Photo/Evgeniy Maloletka/Keystone

Das Bild der schwangeren Frau, die eine Entbindungsklinik unter Beschuss verlassen musste, ging um die Welt und löste Entsetzen aus. Russland behauptete darauf, die Frau spiele eine Rolle. Nun hat sie eine Tochter entbunden.

Die neugeborene Veronika rollte sich am Freitag an der Seite ihrer Mutter zusammen, als wolle sie sich vor dem Grauen um sie herum verstecken – dem Krieg, der die Entbindungsklinik von Mariupol, in der sie die Welt begrüssen sollte, zerrissen hat.

Am Vorabend der Geburt musste ihre Mutter, Mariana Wischegirskaja, aus dem Spital fliehen, als russisches Militär einen Luftangriff flog. Mit blutverschmierter Stirn und Wange umklammerte sie ihre Habseligkeiten in einer Plastiktüte, als sie am Mittwoch in einem gepunkteten Pyjama die mit Trümmern übersäte Treppe des Krankenhauses hinunterlief. Die Bilder der verzweifelten Mütter und des medizinischen Personals des Kinder- und Frauenkrankenhauses schockierten die Welt. Der Bombenangriff hob Russlands Krieg gegen die Ukraine auf ein neues, erschreckendes Niveau.

Wischegirskaja und eine andere Frau, die dem Bombardement entkommen konnte, wurden in ein anderes Krankenhaus gebracht. Sie entbanden ihre Babys unter dem Lärm von Granaten. Auch das neue Krankenhaus wurde getroffen. Angesichts der weltweiten Verurteilung stellte die russische Seite mehrere falsche Behauptungen auf: Das Krankenhaus sei von rechtsextremen ukrainischen Kräften übernommen worden, um es als Stützpunkt zu nutzen, Patienten und Krankenschwestern seien entlassen worden.

Russlands Propaganda verhöhnt «Beauty-Bloggerin»

Auf der Twitter-Seite der russischen Botschaft in London wurde behauptet, Wischegirskaja sei kein Opfer, sondern eine Beauty-Bloggerin und ein Model, das sich als zwei verschiedene schwangere Frauen ausgegeben habe. Wischegirskaja ist zwar eine ukrainische Bloggerin in Mariupol, die über Hautpflege, Make-up und Kosmetik schreibt, aber es gibt keine Hinweise darauf, dass sie etwas anderes als eine Patientin des Krankenhauses war. In den vergangenen Monaten postete sie mehrere Fotos und Videos, die ihre Schwangerschaft dokumentieren. Auf einem ist sie in dem gleichen gepunkteten Schlafanzug wie auf den Bildern am Mittwoch zu sehen.

Die Botschaft stellte zwei Fotos der Nachrichtenagentur AP nebeneinander, von denen das eine Wischegirskaja zeigt und das andere eine Frau, die auf einer Bahre abtransportiert wird. Darüber ist das Wort «Fake» in roter Schrift gesetzt. Die Bildunterschrift lautete: «Das Entbindungsheim war zum Zeitpunkt des Streiks lange nicht in Betrieb». In einem zweiten Tweet legte die Botschaft ein Foto von Wischegirskaja in eine Decke gewickelt ausserhalb des Krankenhauses zusammen mit einem Bild von ihrem Instagram-Account nach, um anzudeuten, dass sie eine Rolle spiele.

Twitter entfernt Beiträge russischer Botschaft

Die AP-Reporter in Mariupol, die den Angriff in Videos und Fotos dokumentierten, haben die Opfer und Schäden selbst gesehen – und nichts, was darauf hindeutet, dass das Krankenhaus als etwas anderes als ein Krankenhaus genutzt wurde. Twitter hat die Tweets der russischen Botschaft inzwischen entfernt und die bestehenden Links mit dem Hinweis versehen, dass die Beiträge gegen die Twitter-Regeln verstossen.

Der Fall erregte die Aufmerksamkeit des UN-Sicherheitsrats, wo der russische Botschafter Wassili Nebensja während einer Sitzung am Freitag Kopien der AP-Fotos hochhielt und dabei Unwahrheiten über die Identität von Wischegirskaja und den Angriff wiederholte. Die Identität der Frau auf der Bahre hatten die AP-Reporter nicht ermitteln können. US-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield lobte die Medien dafür, dass sie «die Wahrheit vor Ort dokumentieren» und fügte hinzu: «Russland kann die Arbeit der AP-Fotografen nicht vertuschen».

Wischegirskaja brachte ihr Baby in einem Krankenhaus am Rande von Mariupol zur Welt, der Stadt, die seit mehr als einer Woche von Lebensmitteln, Wasser, Strom und Wärme abgeschnitten ist. Am Freitag hielt ihr Ehemann Juri seine Tochter liebevoll im Arm, dann wurde sie wieder an die Seite ihrer Mutter gelegt. Sie trugt noch immer den gepunkteten Schlafanzug.

Von Mstyslav Chernov, AP