Mexikanische DrogenkartelleDie Auftragsmörder sind Kinder
Von Mark Stevenson, AP
16.10.2021 - 08:42
16 Jahre alt und schon ein mehrfacher Mörder – das ist in Mexikos Drogenkartellen kein Einzelfall. Die Banden werben Mitglieder schon in jungen Jahren an, um sie bald darauf als Auftragskiller einzusetzen.
Von Mark Stevenson, AP
16.10.2021, 08:42
16.10.2021, 10:04
dpa/phi
Jacobo wuchs im mexikanischen Staat Jalisco auf, der Heimat des Drogenkartells Jalisco Nueva Generación. Er fühlte sich in der Schule nie wohl und hatte eine schwierige Kindheit, war daheim Gewalt ausgesetzt.
So hielt seine Mutter einmal seine Hände über eine offene Flamme, nachdem er beschuldigt worden war, einen Klassenkameraden geschubst zu haben. Im Alter von zwölf Jahren wurde er vom Kartell rekrutiert und mit seinem ersten Mord für die Drogenorganisation beauftragt.
«Sie halten nach Kindern Ausschau, die auf der Strasse sind und Geld brauchen», sagt Jacobo, der jetzt 17 Jahre alt ist. «Als ich zwölf war, wurde ich eine Art Auftragskiller.» Er erzählte seine Geschichte einer gemeinnützigen Gruppe namens Reinserta, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Rekrutierung Jugendlicher durch Drogenkartelle zu verhindern und Wege zu finden, sie zu rehabilitieren, wenn sie bereits angeheuert worden sind.
Interview mit 89 Jugendlichen
Sie fordert etwa mehr Freizeit- und Bildungsangebote für Kinder, besseren Schutz vor häuslicher Gewalt, eine frühzeitige Behandlung von Drogenabhängigkeit und psychologische Betreuung ehemaliger Bandenmitglieder. Diese Woche hat Reinserta einen Bericht veröffentlicht, der auf Interviews mit 89 Minderjährigen beruht, die derzeit in verschiedenen mexikanischen Staaten Jugendstrafen verbüssen.
67 von ihnen sagten, dass sie aktiv in Kartelle involviert waren, das Durchschnittsalter, in dem sie in Kontakt mit ihnen kamen, lag zwischen 13 und 15 Jahren. Aber manche waren gerade mal zehn. Alle hatten die Schule abgebrochen, und alle benutzten früher oder später Schusswaffen.
Für Jacobo fing es damit an, dass ein Nachbar ihn fragte, ob er sich Geld verdienen wolle. Da er in einem Haushalt aufwuchs, in dem es oft finanziell nicht einmal fürs Nötigste reichte, dachte er nicht lange nach. «Ich sagte ja. Wer würde schon kein Geld wollen?» erzählt er. Aber die umgerechnet etwa 1200 Franken, die er verdiente, reichten nicht lange, zumal er selbst damit anfing, Drogen zu nehmen.
«Es war eine Falle»
Und so nahm seine gewalttätige Rolle immer mehr zu. Nur ein paar Jahre nach seiner Rekrutierung folterte er Mitglieder rivalisierender Kartelle, tötete sie, zerstückelte ihre Leichen oder löste sie in Säure auf. Dann kam der Job, der alles änderte. Das Kartell beauftragte ihn, eine Person in der Öffentlichkeit zu töten, mit zahlreichen Augenzeugen. Die Polizei fahndete nach ihm, er versteckte sich.
Das Kartell kontaktierte ihn, sagte, es wolle sein Versteck ändern, «aber es war eine Falle», schildert Jacobo. Weil er nicht länger nützlich war, habe ihn das Kartell loswerden wollen. «Als ich am Treffpunkt auftauchte, begannen sie auf mich zu schiessen. Ich wurde im Kopf, Rücken und Bauch getroffen.»
Die Schützen hielten ihn für tot, liessen die vermeintliche Leiche zurück, aber wie durch ein Wunder überlebte Jacobo und verbüsst jetzt eine vierjährige Haftstrafe wegen Mordes. In Mexiko erlaubt das Gesetz für die meisten jugendlichen Straftäter einen kurzen Gewahrsam, zwischen drei bis fünf Jahren, sodass fast alle wieder freikommen, bevor sie 21 Jahre alt sind.
30'000 Kinder rekrutiert
Jacobo hat weiterhin Angst, er weiss nur zu gut, dass das Kartell praktisch überall ist und vor nichts zurückschreckt. «Jetzt bin ich schlicht ein Ziel, das man eliminieren will», sagt er.
Dem Network for Children's Rights (Netzwerk für Kinderrechte) in Mexiko zufolge sind zwischen 2000 und 2019 etwa 21'000 Jugendliche unter 18 Jahren ermordet worden und 7000 verschwunden. Die Gruppe schätzt, dass bis zum Jahr 2019 im Land etwa 30'000 Teenager unter 18 Jahren von Drogenbanden rekrutiert wurden.
Reinserta sagt, dass Kinder häufig von Gleichaltrigen für die Kartelle angeheuert würden. Als Hebel dienten oft Drogen, aber die Banden nutzten auch religiöse Überzeugungen und die Sehnsucht, zu etwas zu gehören, zur Anwerbung aus. Kombinationen von Armut, häuslicher Gewalt und Gleichgültigkeit von Schulen und Sozialbehörden spielten ebenfalls eine Rolle.
Minderjährige mit Vorteil vor Gericht
Drogenkartelle halten Leute unter 18 für nützlich, weil sie leichter übersehen werden und vor Gericht nicht wie Erwachsene behandelt werden können. Sie werden anfangs für den Strassenverkauf von Drogen und als Wachposten eingesetzt, aber dann oft schnell zu Mördern «aufgewertet». Das geschieht in den Gebieten an der nördlichen Grenze rascher als in den südlicheren.
Orlando beispielsweise wuchs auf den Strassen nördlicher Städte wie Ciudad Juárez auf, nachdem er aus einem Waisenhaus geflüchtet war. Er schätzt, dass er im Alter zwischen zehn und 16 Jahren 19 Menschen getötet hat, zumeist im Auftrag des Sinaloa-Kartells. Jetzt, 17 Jahre alt und wie Jacobo für vier Jahre in Jugendhaft, sagt er: «Ich kenne keine andere Art zu leben als Leute zu töten.»
Auch Iván wuchs in einer nördlichen Grenzstadt auf, aber litt nicht unter Armut oder häuslicher Gewalt, sondern entschied sich bewusst, sich dem Kartell anzuschliessen, für das auch sein Vater arbeitete. «Ich war sehr beeinflusst von der Narco-Kultur», sagt er. Bereits im Alter von elf Jahren tötete er für das Kartell, zerstückelte oder zersetzte er die Leichen seiner Opfer in Säure.
Der Anblick der ersten Leichen erschreckte ihn, aber binnen kurzer Zeit «fühlte ich nichts, keine Furcht, keine Reue, keine Schuld, nichts.» Jetzt verbüsst auch er eine Strafe wegen Mordes.
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