Selenskyj: Jeden Tag sterben 300 Russen in einem sinnlosen Krieg
In seiner nächtlichen Videoansprache hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gesagt, dass schon mehr als 31.000 russische Soldaten in einem «sinnlosen Krieg gegen die Ukraine» gestorben seien. Die Angabe lässt sich nicht unabhängig überp
08.06.2022
Wladimir Putin drängt darauf, dass Sjewjerodonezk fällt – doch die Verteidiger wehren sich erbittert. Moskau muss deshalb Truppen an anderen Fronten abziehen, wo die Ukrainer nun in die Offensive gehen.
Von Philipp Dahm
08.06.2022, 17:59
Philipp Dahm
Wie ist die aktuelle Lage im Krieg in der Ukraine? Michael Clarke bringt es bei «Sky News» auf den Punkt: «Im Moment gibt es im Prinzip drei Schlachtfelder», erklärt der Professor des Londoner King's College: «in Charkiw, natürlich in Sjewjerodonezk und in Cherson. Und diese drei Räume hängen alle zusammen.»
Auf dem nördlichsten Schauplatz bei Charkiw hätten die Ukrainer die Russen erst zurückdrängen kann, dann habe die Offensive jedoch an Schwung verloren, erläutert Clarke. «Aber jetzt machen sie wieder Druck. Es sieht so aus, als würden sie auf die Grenze zu Russland vorrücken und einen Teil der russischen Kräfte abschneiden.»
The illegal and unprovoked invasion of Ukraine is continuing.
The map below is the latest Defence Intelligence update on the situation in Ukraine - 08 June 2022
— Ministry of Defence 🇬🇧 (@DefenceHQ) June 8, 2022
Wichtiger sei jedoch die «recht grosse Offensive» der Verteidiger bei Cherson, die vor rund zehn Tagen eingeläutet worden sei. Das sei «wichtig» für die Ukrainer, weil die einst 290'000-Einwohner-Stadt die grösste sei, die die Angreifer bisher unter Kontrolle bringen konnten, fährt der Brite fort. Eine Rückeroberung wäre ein «grosser, grosser symbolischer Sieg».
Die Ukrainer hätten auf diesem Schlachtfeld nun eine neue Front eröffnet, informiert Clarke: «von Snihuriwka durch Dawydiw Brid bis Wyssokopillja, was eine Front von ungefähr 80 Kilometern ist». Kiews Kämpfer hätten bei Dawydiw Brid den Inhulez, einen Nebenfluss des Dnjepr, überqueren können. «Die Ukrainer haben dadurch eine gute Chance, eine Offensive zu starten, um die Russen [in Cherson] zum umkreisen.»
Konzentration auf Sjewjerodonezk
Den Ukrainern spiele in die Hände, dass in diesem Gebiet und rund um Melitopol offenbar viele Truppen in den Donbass abgezogen worden seien – was Clarke zum dritten Schlachtfeld bringt. Erst habe es noch so ausgesehen, als würde Sjewjerodonezk fallen und sich die Verteidiger nach Lyssytschansk zurückziehen, erklärt der Experte. Doch dann hätten sie den Fluss erneut überquert, um einen Gegenangriff zu starten.
Sjewjerodonezk sei zwar symbolisch wichtig – eine Einnahme würde die Eroberung des Oblasts Luhansk komplettieren –, aber militärisch weniger. «Die wichtigen Orte für die Kontrolle des restlichen Donbass sind Slowjansk und Kramatorsk», sagt der Professor. Die Städte liegen ein wenig erhöht und beherbergen das regionale Hauptquartier der ukrainischen Armee und seien «wirklich wichtig».
«Die Ukrainer müssen das Gefühl haben, dass die Bedrohung von Slowjansk und Kramatorsk nicht so unmittelbar ist», so Clarke. Deshalb könnten sie es sich leisten, die Angreifer in Sjewjerodonezk zu stellen. Weil die Russen so erpicht darauf seien, den Ort einzunehmen, konzentriere Moskau hier seine Kräfte, was den Ukrainern die Erfolge in Cherson und Charkiw erst ermögliche. Diese drei Fronten an zwei Flüssen werden den Krieg in den kommenden Tagen prägen, endet Clarke.
«Die Kämpfe werden ziemlich heftig werden»
Alles deutet darauf hin, dass Putins Generäle alles auf die Eroberung von Sjewjerodonezk setzen, aber für mehr keine Kraft haben – und deshalb aus den anderen Gebieten Soldaten abziehen, meldet auch das «Institute for the Study of War». In Sjewjerodonezk erwartet sie ein blutiger Häuserkampf.
Die Verteidiger hätten sich nur wegen des schweren Artillerie-Beschusses temporär zurückgezogen, erklärt Serhii Haidai, der verantwortliche Militär in Luhansk. «Niemand wird irgendetwas aufgeben», zeigt sich der Ukrainer kämpferisch. Geländegewinne können die Angreifer zuletzt dann auch nicht erzielen. Er blickt grimmig in die Zukunft: «Die Kämpfe werden ziemlich heftig werden.»
#Russian forces continued offensive operations in several locations in eastern #Ukraine but did not secure any confirmed gains in ground assaults on June 7.
Insgesamt ist die Front in den besetzten ukrainischen Gebieten nun über 500 Kilometer lang, weiss der britische Geheimdienst. «Sowohl Russland als auch die Ukraine sehen sich der ähnlichen Herausforderung gegenüber: eine defensive Linie zu halten, während sie gleichzeitig fähige Kampfgruppen für offensive Operationen freimachen.»
Artillerie als Mittel der Wahl
Ein probates Mittel, um in dieser Situation irgendetwas zu erreichen, ist der Einsatz von Artillerie. Ein Video im Internet zeigt einen langen Zug, der mit Mehrfach-Raketenwerfern beladen ist, die angeblich aus der Region Irkutsk an die Front gebracht werden. Der BM-27 Uragan verschiesst Raketen mit 220 Millimeter Breite bis zu 570 Kilometer weit.
Sollte die Information zutreffen, kann die Verlegung auf eine Antwort auf die letzten Waffenlieferungen des Westens gesehen werden, die bekannt geworden sind: Die USA will Mehrfachraketenwerfer wie MLRS und HIMARS liefern – allerdings ohne jene Raketen, die eine ähnliche Reichweite wie die Uragan haben.
Sie kommen dafür aus Grossbritannien: London hat trotz Drohungen aus Moskau angekündigt, einerseits Langstrecken-Raketen, aber auch MLRS-Fahrzeuge zu liefern. Deutschland will mit dem gleichen Abschuss-System helfen, das eine Reichweite von normalerweise gut 80 Kilometer hat.
Norwegen hat zudem verkündet, Kiew 20 Panzerhaubitzen vom Typ M-109 Paladin zu senden, während die Ukraine gleichzeitig in Polen Krab-Panzerhaubitzen in Wert von 635 Millionen Franken bestellt hat. Es bleibt die Frager, wie unmittelbar diese Hilfe ist: Bis die Waffen geliefert und vom Personal beherrscht werden, wird einige Zeit vergehen.