Lukaschenkos GefängnisseDie Schreie aus dem Inneren erschüttern ein Land
Von Gil Bieler
25.5.2021
Der Wille wird gebrochen – mit physischer und psychischer Gewalt: Immer wieder gelangen Berichte aus weissrussischen Haftanstalten ans Licht. Für den entführten Journalisten Roman Protassewitsch und seine Partnerin verheisst das nichts Gutes.
Von Gil Bieler
25.05.2021, 18:05
26.05.2021, 08:43
Gil Bieler
Für Angehörige und Menschenrechtsorganisationen steht ausser Frage: Roman Protassewitsch wird im Untersuchungsgefängnis gefoltert. Das sei auf der am Montagabend veröffentlichten Videobotschaft des festgenommenen Journalisten zu sehen. «Es ist möglich, dass seine Nase gebrochen ist, denn ihre Form ist anders, und es ist eine Menge Puder darauf. Die ganze linke Seite seines Gesichts ist abgepudert», sagte der Vater des inhaftierten Journalisten und Bloggers zur Nachrichtenagentur Reuters.
Solange keine unabhängige Untersuchung möglich ist, bleibt es bei dem schwerwiegenden Verdacht. Doch dieser passt in das Bild zu den Zuständen in den weissrussischen Haftanstalten, die in den letzten Monaten ans Licht gelangt sind. Seit den Präsidentschaftswahlen im August 2020 erhebt sich das Volk in ungekannter Zahl gegen Langzeitmachthaber Alexander Lukaschenko – und der reagiert mit gnadenloser Härte. Tausende Demonstrant*innen wurden schon inhaftiert, teils von maskierten Sicherheitskräften regelrecht verschleppt – und viele berichten nach ihrer Freilassung von schrecklichen Szenen.
«Ich kann hier nicht alles aufzählen, was ich gehört und gelesen habe: Sie wurden geprügelt, Knochen wurden gebrochen, sie waren zwei Tage ohne Essen», fasst der weissrussische Schriftsteller Viktor Marinowitsch in der «Zeit» zusammen. Das habe vielen in Belarus die Augen geöffnet, in was für einem Land sie lebten.
«Es war dann, denke ich, ein Video, das nachts vor dem Gefängnis in der Okrestina-Strasse aufgenommen wurde, in dem das Gewimmer und die Schreie der Gefangenen aus dem Inneren zu hören sind, das das Land endgültig erschaudern liess», so Marinowitsch.
Diese Aufnahme aus dem Okrestina-Gefängnis in Minsk ging um die Welt – Warnung: Der Inhalt des Videos kann verstörend wirken.
Youtube
In jenem berüchtigten Gefängnis sitzt seit Kurzem auch die Freundin von Roman Protassewitsch, Sofia Sapega. Das machte die Mutter der 23-Jährigen laut dem «Spiegel» öffentlich. Auch Sapega wurde am Sonntag aus dem Ryanair-Flugzeug abgeführt, das vom weissrussischen Regime zur Notlandung gezwungen wurde. Was der Studentin angelastet wird, ist nicht bekannt. Es ist aber wohl auch gar nicht so entscheidend.
Im Belarus des Jahres 2021 leben Regimekritiker*innen generell gefährlich. Aktuell zählt die weissrussische Menschenrechtsgruppe Viasna 406 politische Gefangene im Land. Und ihre Zahl steigt weiter an, Ende April seien es noch hundert Menschen weniger gewesen. Verhaftet würden Blogger*innen, Geschäftsleute, politisch engagierte Bürger*innen und Demonstrant*innen. Dabei täten diese nichts anderes, als ihre Rechte auszuüben: «Das Recht, an friedlichen Versammlungen teilzunehmen, ihre Meinung zu äussern und sich politisch zu engagieren.»
Bern pocht auf Freilassung
Viasna und weitere NGOs fordern die sofortige Freilassung von Protassewitsch sowie aller politischer Gefangener. Eine Position, die auch das Eidgenössische Aussendepartement (EDA) teilt: Die Festnahme von Roman Pratassewitsch sei «sehr verstörend», teilte das EDA am Sonntag auf Twitter mit. Die belarussischen Behörden müssten ihn an sein ursprüngliches Reiseziel Vilnius weiterreisen lassen. Und: «Eine gründliche Untersuchung ist unerlässlich.»
Auf Bitten um eine Stellungnahme zu den Vorkommnissen in Weissrussland verweist das EDA «blue News» auf das Statement vom Sonntag. Aussenminister Ignazio Cassis hatte jedoch bereits im April, als er seinen belarussischen Amtskollegen Uladzimir Makei in Bern empfangen hatte, gefordert, alle willkürlich inhaftierten Personen müssten freigelassen werden.
Gemeint ist damit auch die schweizerisch-weissrussische Doppelbürgerin Natallia Hersche, die im September 2020 festgenommen und später zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde – wegen angeblichen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Im März wurde sie in eine Frauenkolonie in der Stadt Gomel nahe der russischen Grenze verlegt.
Wie aber kann das EDA ihre Haftbedingungen überprüfen? EDA-Mediensprecher Pierre Alain Eltschinger teilt «blue News» mit: «Der Schweizer Botschafter in Minsk konnte Frau Hersche bereits neunmal besuchen. Bei diesen Treffen wurden die Haftbedingungen besprochen.» Aus Gründen des Personenschutzes könnten jedoch keine weiteren Angaben dazu gemacht werden.
Uniformen nähen für Lukaschenkos Schläger
In Briefen an ihren Bruder, aus denen das «St. Galler Tagblatt» zitiert, konnte die 51-Jährige Einblicke in den Haftalltag geben: Um 6 Uhr morgens müsse sie in der haftinternen Näherei zu arbeiten beginnen, wo Uniformen für die Sicherheitskräfte des Regimes hergestellt würden. «Ich habe das Gefühl, dass sich ein Konflikt zusammenbraut, weil ich keine Uniform für Strafverfolgungsbehörden nähen werde», schreibt die St. Gallerin ihrem Bruder.
Es gebe keine Möglichkeiten für Sport, keine Zeitungen, dafür ein allabendliches «Gehirnwäscheprogramm» mit Propagandavideos des Regimes – und eine einzige Toilette für 28 Frauen. Der Gestank sei kaum auszuhalten, berichtet Hersche.
Dem Gefängnisalltag in Weissrussland kam auch SRF-Korrespondentin Luzia Tschirky näher, als ihr lieb war: Im Januar wurden die Journalistin, die aus Russland und den Ex-Sowjetstaaten berichtet, sowie zwei ihrer Bekannten in Minsk von maskierten Männern in einen Minibus gezerrt und auf einen Polizeiposten gefahren. Der Vorfall schlug Wellen, das EDA bestellte gar den weissrussischen Botschafter ein. Während Tschirky nach drei Stunden wieder freikam, wanderten ihre beiden Bekannten für mehr als drei Wochen hinter Gitter.
«Hätte ich keinen Schweizer Pass, wäre ich noch immer auf der Polizeistation. Die Bürger von Belarus sind der Willkür der lokalen Behörden völlig ausgeliefert», schrieb Tschirky auf Twitter. Was ihre Bekannten im Gefängnis erlebten, schilderten diese nach ihrer Freilassung bei SRF.
Hätte ich keinen Schweizer Pass wäre ich noch immer auf der Polizeistation. Die Bürger von Belarus sind der Willkür der lokalen Behörden völlig ausgeliefert. Noch immer kann ich meine Bekannte nicht erreichen. Fast neun Stunden ist es her, seit wir von der Strasse gezerrt wurden. https://t.co/8U515kSzly
«Wir waren zehn Frauen in einer kleinen Zelle, die rund drei Meter auf fünf Meter misst», sagte die Juristin Anisja Kasljuk. Es sei auch sehr kalt gewesen in der Zelle, die meisten Frauen hätten an Unterkühlung gelitten. Ausserdem sei es ihnen verboten worden, tagsüber auf dem Bett zu sitzen. «Es gab Sitzbänke, aber diese waren hart und kalt. Alle Frauen bei uns in der Zelle haben vom Sitzen blaue Flecken bekommen, da wir uns auch nicht mit unseren Jacken auf die Bänke setzen durften.»
Das Gefängnis sei im Vergleich zum «Zentrum für Gesetzesbrecher», in dem sie davor festgehalten worden seien, aber noch harmlos gewesen: «Es geht darum, dass man die Menschen möglichst stark zu erniedrigen versucht.» Es habe keine Matratze gegeben. «Wir mussten uns zu fünft eine Zahnbürste teilen, ich konnte erst sieben Tagen nach der Festnahme erstmals duschen.» Ihr Partner Juli Iljuschenko habe sich im Gefängnis mit dem Coronavirus infiziert, sich aber erst nach seiner Freilassung behandeln lassen können.
UNO zutiefst besorgt
Expert*innen des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte verurteilten die Polizeigewalt und Folter von Gefangenen in Weissrussland bereits im September 2020. Sie beriefen sich auf mehrere Hundert dokumentierte Fälle.
Über die Festnahme von Roman Protassewitsch und Sofia Sapega zeigte sich das Hochkommissariat in einer Mitteilung von heute Dienstag «schockiert». «Solch ein Missbrauch der Staatsgewalt gegen einen Journalisten, dessen Tätigkeiten durch internationales Recht geschützt sind, erhält und verdient deutlichste Verurteilung.»
Und weiter heisst es: «Wir fürchten um die Sicherheit von Roman Protassewitsch und verlangen eine Versicherung, dass er menschlich behandelt wird und nicht Misshandlungen oder Folter ausgesetzt wird.» Sein Erscheinungsbild in der Videoerklärung vom Montag sei «nicht beruhigend angesichts der scheinbaren Verletzungen in seinem Gesicht».