Kleines Land in grosser Angst «Die Russen erobern die Ukraine, dann kommen sie nach Moldawien»

Von Philipp Dahm

21.3.2022

Geflüchtete aus der Ukraine am 19. März im moldawischen Dorf Palanca: 350'000 von ihnen sind bereits im Nachbarland angekommen.
Geflüchtete aus der Ukraine am 19. März im moldawischen Dorf Palanca: 350'000 von ihnen sind bereits im Nachbarland angekommen.
EPA

Bundespräsident Ignazio Cassis besucht am Dienstag Moldawien. Das Land ist wegen der abtrünnigen Region Transnistrien geteilt – und fürchtet, dass Moskau das Separatistengebiet nutzt, um für böses Blut zu sorgen.

Von Philipp Dahm

Der achte Jahrestag der Annexion der Krim ist ein Anlass zu feiern. Zumindest in Moskau, wo am Samstag, 19. März, ein grosses Konzert in einem Stadion in der russischen Hauptstadt stattfindet.

Neben Wladimir Putin tritt auch einer seiner liebsten Sänger auf. Oleg Gasmanow, der in vielen westlichen Ländern Persona non grata ist, trällert den 80'000 Zuschauern entgegen: «Die Ukraine und Krim, Belarus und Moldawien, das ist mein Land.»

Es ist, als würde heute jemand in Berlin singen: «Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt – Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt.» Und so wie das verständlicherweise Alarm in Rom, Wien, Paris oder Warschau auslösen würde, hat auch das kleine Moldawien gehört, was Putin-Freund Gasmanow da in Moskau von sich gibt.

Im Land herrscht Angst. «Die Russen werden die Ukraine erobern, und dann kommen sie nach Moldawien», glaubt etwa Veronica Soltan. «Sie werden eine Karte wie 1945 machen.» Damals war der Staat noch Teil der Sowjetunion. Die 70-jährige Lehrerin hat sich für alle Fälle einen neuen Koffer besorgt, berichtet die «New York Times». «Wir müssen bereit sein, denn man weiss nie, was passieren wird.»

Die Russifizierung Transnistriens

Kein Wunder, dass die Bürger*innen so besorgt sind: Seit 1992 sind rund 1500 russische Soldaten in Moldawien stationiert. Sie garantieren die De-facto-Unabhängigkeit von Transnistrien, einem schmalen Streifen Land östlich des Flusses Dnister, der von Moldawien und der Ukraine umgeben ist. Als Vertreter der Regionen Luhansk und Donezk bei Wladimir Putin vorgesprochen haben, um die Anerkennung ihrer Souveränität zu erreichen, sollen auch Abgesandte aus Transnistrien im Kreml gewesen sein.

Lage der autonomen und de facto unabhängigen Transnistrischen Moldauischen Republik.
Lage der autonomen und de facto unabhängigen Transnistrischen Moldauischen Republik.
Commons/Perconte

Wie kommt Moskaus enge Bindung mit Transnistrien zustande? Das Gebiet gehörte im Norden einst zum Königreich Polen und der Rest zum Osmanischen Reich.

1793 und 1812 geht der Besitz an Russland über, und der Kreml entsendet Siedler, die Tiraspol, die Hauptstadt Transnistriens, gründen. 1918 fällt das Gros von Moldawien an Rumänien, während Transnistrien der autonomen sowjetischen Teilrepublik Moldau zugeschlagen wird und weiter Russen aufnimmt.

Das mündet darin, dass 1989 die Moldauer nur noch 40 Prozent der Bevölkerung in dem Gebiet stellen. 1990 erklärt sich Moldawien für eine unabhängige Republik, während sich Transnistriens Führer als sowjetische Teilrepublik souverän machen wollen, weil sie mit dem nationalistischen Kurs in Chisinau nicht einverstanden sind. 1992 gibt es einen kurzen Bürgerkrieg, der nach Vermittlungen russischer Militärs beendet wird.

«Wenn ihr gehen wollt, geht jetzt»

«Heute leben in dem de facto unabhängigen Gebiet rund 550'000 Menschen. Rund 1500 russische Soldaten bewachen ein riesiges Munitionsdepot aus Sowjetzeiten und sorgen neben 10'000 bis 25'000 Paramilitärs für Ordnung. Die Bevölkerung besteht zu rund einem Drittel aus Moldauern, Russen und Ukrainern, doch langsam entwickelt sich in dem Gebiet offenbar auch eine transnistrische Identität.»

Vom ukrainischen Odessa aus ist es quasi nur ein Katzensprung nach Tiraspol in Transnistrien. Russland könnte so auch die Verbindung ins Nato-Land Rumänien kappen.
Vom ukrainischen Odessa aus ist es quasi nur ein Katzensprung nach Tiraspol in Transnistrien. Russland könnte so auch die Verbindung ins Nato-Land Rumänien kappen.
Google Earth

Doch ausgerichtet bleibt das Gebiet auf Russland, das 70 Prozent des transnistrischen Haushalts bestreitet. Und nach dem, was in der Ukraine geschehen ist, fürchten die Moldawier*innen, dass Russland neue Fakten schaffen will. «Wir wissen nicht, ob Putin Moldawien angreifen wird», sagt Vitalie Perciun, «aber es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass er es nicht tut.»

Video-Produzent Perciun lebt mittlerweile in Grossbritannien, hat aber eine 2700 Kilometer lange Fahrt in die alte Heimat auf sich genommen, um seine beiden Töchter aus Moldawien zu holen, die bei seiner Ex-Frau gelebt haben. «Ich habe allen gesagt, die mir nahestehen: Wenn ihr gehen wollt, geht jetzt. Bevor die Panik einsetzt.»

«Vielleicht nicht in 48 Stunden, aber in 48 Monaten»

Elena Ivanesi ist bereits mit ihrem Mann und den beiden Kindern ins Nachbarland geflohen – viele Moldawier*innen haben auch einen rumänischen Pass. «Wir wurden schon ein paar mal von Russland geschluckt», meint die 39-Jährige. Ihre Heimat sei «in einer sehr schwachen Position», weiss sie: «Wir haben nicht die Macht, um zu kämpfen.»

Fachleute können die Sorgen nachvollziehen: «Wenn der Konflikt über die Ukraine hinaus eskaliert, ist Moldawien einer der Orte mit dem höchsten Risiko», erklärt Adriano Bosoni, Analyst bei der Firma Rane, dem US-Sender CNBC. «Für mich ist es hochinteressant, dass Russland Transnistrien noch nicht so anerkannt hat, wie es das bei Luhansk und Donezk getan hat.»

Sollte es zu diesem Konflikt kommen, wäre die kleinere Partei hoffnungslos unterlegen, erläutert Clinton Watts vom Foreign Policy Institute: «Es würde wenig bis gar keinen Widerstand geben.» Sollte Putin die Südukraine erobern, könnte Transnistrien eine «Wiedervereinigung» anstreben und die Region als «Sprungbrett benutzen, um Moldawien einzunehmen. «Vielleicht nicht in 48 Stunden, aber in 48 Monaten», führt Watts aus.

Welche Rolle spielt der mächtige Sheriff-Konzern?

Auch Vitalie Marinuta ist unruhig. «Die Spannungen werden intensiver», sagt der ehemalige Verteidigungsminister zu «Euronews». «Ich denke, wir haben einen Grund, uns dieser Tage Sorgen zu machen.» Marinuta hält zwei Szenarien für vorstellbar: «Das erste ist, dass [Transnistrien] ausgesprochen loyal gegenüber Russland sein könnte, angetrieben von den circa 1500 russischen Soldaten in Tiraspol.»

Die Alternative überrascht: «Das zweite Szenario ist, dass die Interessen der Sheriff Holding Company überwiegen, die de facto Transnistrien führt.» Dazu muss man wissen, dass das ökonomische Herz Moldawiens in der Teilrepublik schlägt. Hier haben die Sowjets Industrien angesiedelt: Textilien und Energie werden hier produziert.

Das Stadion von Sheriff Tiraspol vor dem Champions-League-Spiel gegen Inter Mailand am 3. November 2021.
Das Stadion von Sheriff Tiraspol vor dem Champions-League-Spiel gegen Inter Mailand am 3. November 2021.
EPA

Die Sheriff Holding Company wurde von dem russischen Veteranen Viktor Gusan gegründet und unterhält Supermärkte, Tankstellen, einen TV-Sender, besitzt Firmen und gilt mit seinen gut 13'000 Angestellten als die wichtigste Fraktion in Transnistrien. Auch der Tiraspoler Fussballclub gehört dem Konzern.

Russischer Korridor nach dem Fall von Odessa?

Natalia Albu, die an der moldawischen Militärakademie lehrt, sieht eine nahegelegene ukrainische Stadt als Wendepunkt des moldawischen Schicksals. «Wenn die Russen Odessa kriegen, [wird es gefährlich]. Russlands Ziel ist es, einen Korridor zu einer Region herzustellen, die Moskau kontrolliert.» Die Regierung in Chisinau dürfe gegenüber Tiraspol keine Angst zeigen, um die Separatisten nicht noch weiter zu ermuntern.

In Moldawien steht und fällt alles mit dem Wohl und Wehe der Ukraine. «Ich habe nicht mehr so viel Angst wie Wochen zuvor», sagt etwa Oxana aus Chisinau. «Ich verstehe mehr von dem, was passiert,  und ich sehe, wie heroisch die Ukraine der russischen Invasion widersteht, obwohl das niemand geglaubt hätte.»

Gedränge am Grenzübergang zwischen der Ukraine und Moldawien beim Dorf Palanca am 17. März.
Gedränge am Grenzübergang zwischen der Ukraine und Moldawien beim Dorf Palanca am 17. März.
AP

Vom Krieg wissen die Bürger*innen auch durch die Flüchtlinge. Kein anderes Land hat so viele Menschen aufgenommen: 350'000 sollen es bei einer Bevölkerung von knapp 2,6 Millionen sein. Die Solidarität ist trotz der Belastung dort sehr gross: Wenn die Schweiz gleichziehen wollte, müsste sie 1,15 Millionen Geflüchtete aufnehmen.

Hier wird Ignazio Cassis ansetzen, wenn er am 22. März in Moldawien ankommt. Der Bundespräsident wird bei einem Treffen mit Präsidentin Maia Sandu klären, wie der Bund am besten helfen kann. Ausserdem steht der Besuch eines Flüchtlingszentrums auf dem Programm. Fest steht aber schon vor der Visite: Moldawien kann gerade jede internationale Hilfe mehr als gut gebrauchen.