Russischer Angriff auf den Donbass «Die Offensive markiert das Ende des Kriegsbeginns»

Von Oliver Kohlmaier

20.4.2022

Ein ukrainischer Soldat steigt im Donbass auf einen Schützenpanzer. Die russische Armee hat ihre Grossoffensive im Osten des Landes gestartet.
Ein ukrainischer Soldat steigt im Donbass auf einen Schützenpanzer. Die russische Armee hat ihre Grossoffensive im Osten des Landes gestartet.
Diego Herrera/XinHua/dpa

Die russische Armee setzt den Strategiewechsel des Kreml um und greift auf breiter Front im Donbass an. Was das für den Krieg bedeutet und wie die ukrainischen Streitkräfte auch im Osten des Landes bestehen können.

Von Oliver Kohlmaier

Der Rückzug der russischen Truppen nördlich von Kiew kam einer Flucht gleich. Die rasche Einnahme der Hauptstadt war endgültig gescheitert.

Aus dem Kreml hiess es trotzdem, man habe die Ziele im Norden des Landes erreicht, wolle sich nunmehr auf den Osten der Ukraine konzentrieren und den Donbass «befreien». 

Nun hat die russische Armee ihre Grossoffensive im Osten begonnen. Schon in der Nacht auf Dienstag gab es zahlreiche Luftangriffe sowie Artilleriebeschuss entlang der östlichen Frontlinie. 

Die Offensive im Donbass bilde das «Ende des Kriegsbeginns», sagt Alexander Bollfrass vom Center for Security Studies der ETH Zürich auf Anfrage von blue News. Nicht nur der Kreml, auch die Ukraine sprechen nunmehr von einer zweiten Phase des Krieges.

«Jetzt wissen sie, dass sie einen Krieg führen»

Putins Angriff auf die Ukraine im Februar basierte Bollfrass zufolge auf «vielen politischen und militärischen Fehlannahmen», etwa dass die Regierung fallen, sich die ukrainischen Truppen nicht verteidigen oder die russischen Invasoren gar als Befreier begrüsst würden.

Eingetreten ist vielmehr das Gegenteil: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erweist sich als Anführer einer intakten Regierung und wendet sich fast täglich an sein Volk. Die ukrainischen Truppen leisten ihren militärisch überlegenen Gegnern seit Kriegsbeginn erbitterten Widerstand und waren offenbar sehr gut vorbereitet.

Die erste russische Offensive im Norden der Ukraine sei nicht nach einer vernünftigen Doktrin für kombinierte Waffen geführt worden, erklärt Bollfrass. «Die russischen Streitkräfte sind stückweise in die Ukraine eingedrungen und bauten weder logistische Versorgung auf, noch übernahmen sie die Kontrolle über den Luftraum.»

Für den Sicherheitsexperten ist diese Entwicklung wenig überraschend: Das russische Militär habe schliesslich nichts von Putins Invasionsplan geahnt: «Jetzt wissen sie, dass sie einen Krieg führen.»

Russen wollen Lehren aus ihren Fehlern ziehen

Für die russische Armeeführung im Donbass bietet sich nun die Gelegenheit, ihr teils dilettantisches Vorgehen im Norden wieder wettzumachen.

«Durch die Verlegung und Neuausrichtung der Streitkräfte im Donbass, wo das Gelände und die Logistik günstiger sind, versucht Russland nun, die Lehren aus seinem Scheitern der Nordoffensive zu ziehen», erklärt Bollfrass.

Grafik-Karte Nr. 104033, Hochformat 90 x 140 mm,
Grafik von dpa

Die Bedeutung des 9. Mai

An einem schnellen Vorrücken der russischen Truppen gibt es erhebliche Zweifel. Aus militärischer Sicht aber ist jeder weitere Tag des Krieges für Russland ein Misserfolg, die Militärführung muss liefern.

Zuletzt wurde dabei immer wieder der 9. Mai als eine Art Stichtag ins Spiel gebracht. An diesem Tag feiern die Russinnen und Russen den Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland und das Ende des Zweiten Weltkriegs. «Der Tag des Sieges» ist Russlands wichtigster Feiertag und hat daher eine hohe symbolische Bedeutung. 

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron betonte erst kürzlich dessen Bedeutung vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine. «Für Russland ist der 9. Mai ein wichtiger Tag für das Militär, und es ist relativ klar, dass es für Präsident Putin ein Tag des Sieges sein muss.»

«Natürlich will jede militärische Führung vom Kriegsbeginn bis zur Siegesparade vorpreschen», sagt Alexander Bollfrass. Ob der «Tag des Sieges» eine Rolle in den Vorgaben des Kremls spielt, bezweifelt der Experte allerdings. Der 9. Mai sei zwar «sicherlich» ein Grund des politischen Drucks für die russischen Streitkräfte. Dennoch gebe es «keine schlüssigen Hinweise» darauf, dass die Entscheidungen durch diesen angeblichen Termindruck beeinflusst würden.

Wie die ukrainische Armee standhalten kann

Schon seit der russischen Invasion am 24. Februar leisten die Streitkräfte der Ukraine hartnäckigen Widerstand. Zahlreiche Militärexper*innen hätten derartige Erfolge kaum für möglich gehalten. Bis heute ist es Putins Armee etwa nicht gelungen, die Luftabwehr des Gegners auszuschalten.

Ohne die in der modernen Kriegsführung notwendige Luftüberlegenheit haben die russischen Streitkräfte bislang herbe Verluste verkraften müssen. Verlässliche Zahlen gibt es dazu nicht, doch sogar der Kreml musste einräumen, dass es «bedeutende Verluste» gegeben habe. Dies sei laut Kreml-Sprecher Dmitri Peskow eine «gewaltige Tragödie». 

Für die ukrainische Armeeführung Bollfrass wird es nun entscheidend sein, die Basis ihres bisherigen Erfolges zu verteidigen. Neben dem Nachschub an Ausrüstung und Munition werde die Ukraine vor allem gefordert sein, weiterhin die Nutzung ihres Luftraums zu erschweren und sich gegen die Artillerie zu schützen, erklärt der Forscher.

Waffen aus dem Westen

Eine entscheidende Bedeutung habe dabei die Unterstützung aus dem Ausland, vor allem des Westens. Dabei komme es insbesondere auf die anhaltende Lieferung von Luftabwehrsystemen an, um sowohl die eigenen Truppen als auch die Zivilbevölkerung zu schützen.

«Diese Nachschublieferungen können nur von ausserhalb des Landes kommen», betont Bollfrass. Mehrere westliche Länder, insbesondere die Vereinigten Staaten, arbeiteten daran, sie bereitzustellen.

Ukrainische Soldaten üben an einem schwedischen Waffensystem: Um der russischen Offensive im Osten des Landes standzuhalten, braucht die Ukraine auch weiterhin Waffenlieferungen aus dem Ausland.
Ukrainische Soldaten üben an einem schwedischen Waffensystem: Um der russischen Offensive im Osten des Landes standzuhalten, braucht die Ukraine auch weiterhin Waffenlieferungen aus dem Ausland.
AP Photo/Andrew Marienko/Keystone

Dass diese Unterstützung ihre Wirkung nicht verfehlt, gibt indessen sogar der Kreml offen zu. Am ersten Tag nach Beginn der Ost-Offensive hat Russland dem Westen vorgeworfen, den Krieg durch Waffenlieferungen an die Ukraine in die Länge zu ziehen. «Die USA und die von ihnen kontrollierten westlichen Länder tun alles, um die militärische Spezialoperation zu verzögern», sagte Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Dienstag.

Wie sich der Krieg in der Ukraine militärisch weiter entwickeln wird, ist letztlich ungewiss. Die ohnehin gebeutelte Zivilbevölkerung jedenfalls wird weiter leiden. 

Am Beginn der neuen Phase des Konflikts geben die Vereinten Nationen bekannt, dass die Zahl der zivilen Todesopfer seit Beginn der Invasion die Marke von 2000 überstiegen hat. Rund vier Millionen Ukrainer*innen sind bereits aus dem Land geflohen.