Unruhen in den USA «... stattdessen sehen wir Flammen und eingeschlagene Scheiben»

Von Gil Bieler

2.6.2020

Die Unruhen in den USA folgten demselben Muster wie in früheren Fällen, sagt Claudia-Franziska Brühwiler. Die USA-Expertin von der Uni St. Gallen über Polizeigewalt, die Corona-Krise und die Rolle von Präsident Trump.

Frau Brühwiler, hat Sie die Heftigkeit, mit der die Proteste aufgeflammt sind, überrascht?

Ja und nein. Ja, weil es leider nicht so selten ist, dass Fälle von exzessiver Polizeigewalt gegen Schwarze publik werden. Und nein, weil es zum Muster solcher Unruhen gehört, dass sie durch Fälle von Polizeigewalt ausgelöst werden. Das war auch 2014 in Ferguson so und beim berühmtesten Beispiel, 1992 in Los Angeles: Damals wurden die Polizisten freigesprochen, die den Schwarzen Rodney King bei einer Festnahme brutal verprügelt hatten. Dieses Muster in Kombination mit dem aktuellen US-Präsidenten und der Coronavirus-Krise, die die schwarze Bevölkerung besonders schwer getroffen hat, liess einen eine Eskalation befürchten.

Zur Person
zVg

Claudia-Franziska Brühwiler ist Lehrbeauftragte für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen amerikanischer Konservatismus und amerikanische politische Kultur.

Trotz aller früheren Aufstände gegen rassistische Polizeigewalt: Wieso hat sich denn noch nichts gebessert?

Das fragt man sich tatsächlich. Wobei man sagen muss: Das liegt nicht allein in der Hand von Washington, sondern die Schulung der Polizisten ist – ähnlich wie in der Schweiz – Sache von Gemeinden oder Bundesstaaten. Und da hat sich doch etwas getan: In einigen Staaten werden nun höhere Anforderungen an Polizisten gestellt, man versucht, auch in deeskalierendem Vorgehen besser auszubilden, in einigen Regionen wird auf eine bessere Diversität geachtet. Es ist also schon etwas passiert, aber noch viel zu wenig.

Woran harzt es denn?

Es braucht sehr viele Ressourcen, um an der Ausbildung etwas zu ändern, sie besser zu machen und speziell an der Spitze der Polizeikorps diese Veränderungen einzuleiten. Und dann braucht es enormen politischen Willen, und der ebbt leider schnell einmal ab.



Anders als bei früheren Fällen wurde nun einer der Polizisten festgenommen und wird angeklagt, der Polizeichef hat sich öffentlich entschuldigt. Ist das mehr als nur Symbolpolitik?

Die Stadt Minneapolis, in der George Floyd getötet wurde, und der Bundesstaat Minnesota sind zumindest nicht bekannt dafür, dass bei der Polizei ein grosses Problem herrschen würde. Und gerade der Gouverneur Tim Walz ist keiner, der nur hohle Rhetorik pflegt, sondern er will wirklich einen Wandel herbeiführen. Es ist immerhin ein positives Zeichen, dass es zu einem Prozess kommt – auch wenn drei der vier involvierten Polizisten noch immer unbehelligt geblieben sind. Ob es auch ein berechtigtes Vertrauen in den Prozess geben kann, ist eine andere Frage.

Können Sie das bitte erklären?

Nur schon das Hin und Her um den Autopsiebericht: Der amtliche Bericht kam zum Schluss, dass Vorerkrankungen und Rauschmittel für den Tod von George Floyd mitverantwortlich waren – der Bericht, den die Opferfamilie in Auftrag gegeben hatte, bestätigte den Tod durch Ersticken. Solches führt dazu, dass Afroamerikaner kein Vertrauen in die Justiz und die Polizeibehörden haben. Dass die Polizei glimpflich davonkommt, ist auch etwas, das sich durch die Geschichte gezogen hat. Von daher ist der Auftakt, dass es nun zu einem Verfahren kommt, gut. Es muss aber mit der nötigen Ernsthaftigkeit fortgeführt werden.

Sie haben es bereits erwähnt, die schwarze Bevölkerung ist schon vom Coronavirus überproportional schwer getroffen worden. Wie erklärt sich das?

Die Hauptrisikofaktoren sind die Armut, in einem Job zu arbeiten, in dem man sich schlecht schützen kann, oder wenn man eine schlechte Gesundheitsversorgung hat. Und diese Faktoren betreffen Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner weit stärker als Weisse oder Angehörige anderer ethnischer Gruppen – Latinos ausgeklammert. Doch die Armutsrate ist in der schwarzen Bevölkerung am höchsten. Was sich gezeigt hat, ist, dass Infizierte oft keine medizinische Hilfe aufsuchen, weil sie nicht versichert sind. Oder wenn sie Hilfe suchen, dauert es lange, bis sie überhaupt angenommen werden. Und wer im Niedriglohnsektor, beispielsweise in einem Fast-Food-Restaurant gearbeitet hat, steht nun auf der Strasse, weil diese Jobs der Krise zum Opfer gefallen sind.

Welche Gruppierungen gehen überhaupt auf die Strasse? Da scheint es einige Verwirrung zu geben.

Das ist für alle kaum zu durchschauen, weil es dazu keine verlässlichen Daten gibt. Es widersprechen sich auch viele Quellen. Man kann hoffentlich darauf vertrauen, was die Gouverneure sagen, und aus Minneapolis hiess es, dass vor allem Leute von ausserhalb kommen, um zu randalieren. Was einigermassen befremdlich wäre. Auch zur Frage, welche Art von Auswärtigen das sind, gibt es unterschiedliche Angaben. Auf Twitter wurde ein Konto, auf dem angeblich im Namen der linksextremen Antifa-Bewegung zu Gewalt aufgerufen wurde, bereits enttarnt – tatsächlich steckten Anhänger der rechtsextremen Szene dahinter. Das einzig Verlässliche ist derzeit, dass wir zu wenige belastbare Informationen haben.

Schadet diese Gewalt dem Anliegen der Demonstranten?

Sicher, weil in der öffentlichen Wahrnehmung dominiert nicht etwa das Bild von Anteilnahme, von friedlichen Demonstranten, die George Floyd gedenken oder Zeugnis von eigener Erfahrung mit Gewalt ablegen. Es gibt auch keine inspirierenden Reden. Stattdessen sehen wir eingeschlagene Fensterscheiben und Flammen – eine Freundin von mir, die in Washington lebt, hat mir geschrieben: ‹America is burning›, Amerika brennt. Diese Bilder machen uns Angst, statt Verständnis und Empathie zu wecken. Stimmen wie John Lewis, ein schwarzer Kongressabgeordneter aus Georgia und Bürgerrechtsaktivist der ersten Stunde, haben zu einem Verzicht auf Gewalt aufgerufen. Denn diese gibt nicht zuletzt Donald Trump einen Anlass, dasselbe zu tun – auch wenn er nicht explizit zu Gewalt aufruft, nimmt er sie doch in Kauf.

Der US-Präsident liess am Montagabend Demonstranten vor dem Weissen Haus mit Tränengas auseinandertreiben, um in die nahe St.-John's-Kirche zu gelangen. Was für ein Signal wollte er damit wohl aussenden?

Ich nehme an, es war als Zeichen der Stärke gedacht. Und wahrscheinlich sollte es auch eine Botschaft an seine Wähler in religiösen Kreisen sein, auch wenn er die Bibel mehr als Requisit benutzte.

Was auffällt: Trump versucht bisher gar nicht, den Versöhner zu geben. Wie beurteilen Sie seine Reaktionen auf die Unruhen?

Es hat auch etwas Trotziges. Wahrscheinlich hätte er sich mehr Aufmerksamkeit für den Start der SpaceX-Rakete erhofft, doch nun dominiert anderes die Schlagzeilen. Leider war es nicht zu erwarten, dass er aus seiner Haut kann und das Volk zu einen versucht. Das ist sehr bedauerlich, da es das jetzt brauchen würde.

Mich erinnert sein Verhalten an das Jahr 1968, als die Stimmung durch die beiden politischen Morde an Robert Kennedy und Martin Luther King extrem aufgeheizt war und es zu Rassenunruhen kam. Damals sagte Präsident Richard Nixon, er stehe für Recht und Ordnung. Und ich glaube, dass Trump diese Rolle nun nachzuahmen versucht. Doch die Umstände sind ganz anders, und Nixon hat auch nie die anheizende Rhetorik von Trump benutzt. Denn egal, in welchem politischen Lager man sich zu Hause fühlt, man muss zugeben: Trump toleriert Gewalt zumindest, oder ruft sogar indirekt dazu auf, wenn er den zweiten Zusatzartikel der Verfassung – das Recht auf Waffenbesitz – in die Diskussion einfliessen lässt.



In der Corona-Krise kam er ja zuletzt ja eher schlecht weg. Kommt ihm dieses neue Thema am Ende sogar gelegen?

Zumindest lenkt es von der Corona-Krise ab, das sicher. Die Frage ist aber, ob es bei den konservativen Wählern nicht langsam ein Einsehen gibt, dass er etwas oft ablenkt – und das sich im November an der Urne zeigt.

Von einem normalen Wahlkampf kann vor den Präsidentschaftswahlen keine Rede sein. Wem nutzt das eigentlich eher – Trump oder seinem wahrscheinlichen Herausforderer, Joe Biden?

Momentan eher Biden. In den Umfragen legte er zuletzt wieder zu, in der neuesten von ‹Washington Post› und dem Sender ABC kam er auf 53 Prozent Zuspruch der registrierten Wähler, Trump kam auf 43 Prozent. Aber man ist natürlich sehr vorsichtig mit Prognosen, da es eine nie da gewesene Situation ist und man nicht einmal weiss, wie die Wahl durchgeführt wird. Im Raum steht die Idee von vermehrter Briefwahl. Und natürlich haben sich fast alle Beobachter 2016 vor der Wahl von Donald Trump die Finger verbrannt.

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