Eine Einordnung So glaubwürdig sind die Versprechen der Taliban

Von Philipp Dahm

18.8.2021

Die Taliban geben sich plötzlich geläutert, wollen die Rechte der Frauen akzeptieren und versprechen, ihre einstigen Gegner zu schonen. Kaum zu glauben, oder?

Von Philipp Dahm

Es ist schon merkwürdig: Da geben die Taliban ihre erste Medienkonferenz, und was im Westen davon ankommt, klingt wie ein Märchen aus «1001 Nacht».

Die Taliban reden demnach von Amnestie: Sprecher Sabiullah Mudschahid habe gesagt, dass auch jene, die die Taliban bekämpft hätten, nichts zu befürchten hätten. Die Rechte der Frauen würden respektiert werden – im Rahmen des islamischen Rechts. Medien wie auch Botschaftsangehörige müssten sich nicht um ihre Sicherheit sorgen.

Es mutet fast so an, als sei der heilige Geist in die Kämpfer gefahren: «Wir wollen keine Konflikte mehr», heisst es aus der Hauptstadt. «Wir wollen keinerlei Chaos oder Unannehmlichkeiten in Kabul sehen.» Es habe Profiteure gegeben, die die Situation nutzen würden, um beispielsweise zu plündern. Darum werde man sich kümmern.

Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid bei seiner ersten Pressekonferenz am 17. August in Kabul.
Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid bei seiner ersten Pressekonferenz am 17. August in Kabul.
KEYSTONE

Wer aber zwischen den Zeilen liest, wird stutzig. «Wir haben die Fremden vertrieben, und ich möchte der ganzen Nation dazu gratulieren», beginnt etwa die Rede des Sprechers. Mudschahid sagt, seine Landsleute hätten auf diesen «historischen Schritt» gewartet, während das aktuelle Chaos allein auf die Kappe von Menschen ginge, die die Situation ausnutzen und Unruhe stiften wollten.

Nur deshalb seien die Taliban bereits in Kabul eingerückt – um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. «Die gesamte globale Gemeinschaft kann versichert sein, dass wir uns dem Versprechen verschrieben haben, dass sie von unserem Boden aus in keiner Weise Schaden zugefügt wird.»

Zwischen den Zeilen lesen

Aber Mudschahid sagt auch: «Wir haben andere Regeln, eine unterschiedliche Politik, andere Ansichten, andere Herangehensweisen. Afghanen haben das Recht, ihre eigenen Regeln, Vorschriften und ihre eigene Politik zu machen, sodass sie im Einklang mit unseren Werten stehen.» Das sind Formulierungen, die wie ein Hintertürchen des Versprechens daherkommen, die Taliban seien plötzlich milde.

Auch beim Bekenntnis zu den Frauenrechten gibt es Ungereimtheiten. Einerseits werde es «keinerlei Diskriminierung» geben, «aber natürlich in dem Rahmen, den wir haben. Unsere Frauen sind Muslimas. Auch sie werden glücklich sein, in unserem Rahmen unter der Scharia zu leben.»

Und auch die Medienfreiheit wird verbal gleich wieder eingeschränkt: «Der Islam ist ein sehr wichtiger Wert und unserem Land, und nichts darf sich gegen islamische Werte richten.» Später ergänzt der Taliban-Sprecher noch einmal relativ deutlich: «Unsere Nation ist eine muslimische Nation – das war vor 20 Jahren so und ist auch heute so.»

Hanbalitische Schule: Dogma, Dogma, Dogma

Und so müssen wir allen Lippenbekenntnissen zum Trotz auch davon ausgehen, dass es im Islamischen Emirat 2021 genau so zu- und hergehen wird wie im Islamischen Emirat, das es zwischen 1996 bis 2001 gab (siehe obige Bildergalerie): Es ist demnach ausgeschlossen, dass es keinerlei Diskriminierung geben wird.

Eine Witwe bettelt mit ihrem Kind im Oktober 2000 in Kabul: Ohne Begleitung eines männlichen Verwandten waren Frauen im Islamischen Emirat quasi Freiwild.
Eine Witwe bettelt mit ihrem Kind im Oktober 2000 in Kabul: Ohne Begleitung eines männlichen Verwandten waren Frauen im Islamischen Emirat quasi Freiwild.
KEYSTONE

Das Rechtsverständnis der Taliban ist von der hanbalitischen Schule geprägt, der nur fünf Prozent der Sunniten angehören. Diese Lehrrichtung ist vor allem im strengen Saudi-Arabien vorherrschend: Riad hat seine Ideologie durch religiöse Schulen in Pakistan verbreitet, denen vor allem afghanische Flüchtlingskinder zum Opfer gefallen sind.

Aus den Kindern von damals sind die Taliban von heute geworden: Sie haben den Hanbalismus mit in ihre Heimat gebracht und bei ihrer Machtübernahme 1996 gleich zur Anwendung gebracht: Dieben wird die Hand abgehackt, Frauen, die ohne männlichen Begleiter untergwegs sind, werden öffentlich ausgepeitscht und Mörder und Vergewaltiger vor Zuschauern hingerichtet.

Afghanen sollen Daten löschen

Die Hinrichtungen waren nicht zuletzt deshalb stets gut besucht, weil jegliche Form von Ablenkung verboten war – von Musik über Malerei bis hin zum Fernsehen. Anderen Religionen wurde das öffentliche Zeigen oder gar Ausüben ihres Glaubens verboten.

Kein Vertrauen in die Taliban: Dieses Satellitenbild vom 18. August zeigt den Run der Afghanen auf den Flughafen, um das Land verlassen zu können.
Kein Vertrauen in die Taliban: Dieses Satellitenbild vom 18. August zeigt den Run der Afghanen auf den Flughafen, um das Land verlassen zu können.
KEYSTONE

Jetzt sagt der Taliban-Sprecher: «Es gibt Sikhs und Hindus im Land, die religiöse Freiheiten geniessen.» Sogar den letzten Juden in Afghanistan will er schützen: Zebulon Simantov, der mit einer jüdischen Tadschikin verheiratet ist, will das Land und die einzige Synagoge darin nicht verlassen.

Dass auch das afghanische Volk dem plötzlichen Humanismus der Taliban nicht traut, zeigen zwei Meldungen. Die Erste: Hilfsorganisationen drängen die Afghanen, ihre digitalen Spuren zu verwischen. «Die Taliban haben jetzt wahrscheinlich Zugang zu verschiedenen biometrischen Datenbanken und Ausrüstung», warnt Human Rights First. 

Preise für Burkas verzehnfacht

«Die Daten können auch genutzt werden, um deine Kontakte und Netzwerke aufzudecken», ergänzt Welton Chang. Human Rights First veröffentlichte auf Farsi Tipps, wie man die biometrische Erfassung umgehen kann: den Blick senken oder Make-up benutzen. Angeblich gehen die Taliban nun von Tür zu Tür, um nach Verrätern zu suchen.

Werden sie die Rechte der Frauen wahren? Taliban-Kämpfer haben am 15. August in Herat einen Kontrollpunkt erreichtet.
Werden sie die Rechte der Frauen wahren? Taliban-Kämpfer haben am 15. August in Herat einen Kontrollpunkt erreichtet.
Bild: Keystone

Ein zweiter Indikator dafür, dass auch das Volk dem Frieden nicht traut: Der Preis für Burkas hat sich verzehnfacht, seit die Taliban die Regierung übernommen haben. Die Vollverschleierung für Frauen ist im Westen ein Symbol für die Unterdrückung der Frauen – und auch für junge Afghaninnen relatib ungewohnt

Für jene, die in den letzten 20 Jahren in Afghanistan gross geworden sind, wird die Umstellung hart werden. «Sie wollen immer noch, dass Frauen zu Hause bleiben», bekundet stellvertretend eine 25-Jährige, die für eine Hilfsorganisation in Herat arbeitet. Sie ist zuletzt wie viele andere Frauen zu Hause geblieben. 

«Ich kann die Burka nicht akzeptieren»

«Ich glaube, ich bin nicht bereit, eine Burka zu tragen. Ich kann sie nicht akzeptieren. Ich werde für meine Rechte kämpfen», glaubt die 25-Jährige, «was auch immer passiert.» Dass Afghanistan nun friedlich wird, sei aber alleine schon deswegen unwahrscheinlich, weil es sich um ein «enorm zerrissenes Land» handelt, wie Conrad Schetter von der Uni Bonn sagt.

Frauen in Burka verkaufen in Mazar-i-Sharif, Afghanistan, Brot.
Frauen in Burka verkaufen in Mazar-i-Sharif, Afghanistan, Brot.
Archivbild: KEYSTONE

«Erstens gibt es eine grosse ethnische Vielfalt, die sich auch in den verschiedenen Sprachen zeigt», erklärt der Autor der Rhein-Neckar Post, «und zweitens auch eine religiöse Vielfalt, weil es neben den Sunniten auch einige Schiiten in dem Land gibt. Und drittens gibt es auch noch eine grosse Differenz zwischen Stadt und Land.»

Und in dieser Gemengelage wollen nun die Taliban, die den strengen saudischen Wahhabismus mit der Muttermilch aufgesogen haben, plötzlich ihre Menschenliebe entdecken? Wie sagte noch ein geiwsser Johann Wolfgang von Goethe: Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.