Neue Front in CharkiwDer Westen hindert die Ukraine daran, sich zu wehren
Von Stefan Michel
15.5.2024
Russland rückt in Charkiw vor – Ukraine spricht von schwieriger Lage
STORY: Der staatliche Katastrophenschutz der Ukraine in der Region Charkiw hat am Samstag Videos veröffentlicht, die die Evakuierung von Einwohnern aus dem Ort Wowtschansk zeigen sollen. Die Nachrichtenagentur Reuters war nicht in der Lage, den Ort oder das Datum, an dem die Videos gedreht wurden, unabhängig zu verifizieren. Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte mit, die russischen Streitkräfte hätten mehrere Dörfer in der Region Charkiw eingenommen. Der ukrainische Militärchef Olexandr Syrskyj sprach am Sonntag von einer schwierigen Lage in der Region im Nordosten der Ukraine. Mit dem Beginn der russischen Offensive in der Region Charkiw vor wenigen Tagen droht die Eröffnung einer neuen Front im Nordosten der Ukraine. Die Stadt Charkiw ist nach Kiew die zweitgrösste Stadt des Landes und liegt rund 400 Kilometer Luftlinie von der Hauptstadt entfernt. In der an Charkiw angrenzenden russischen Grenzregion Belgorod starben nach Behördenangaben mehrere Menschen bei ukrainischen Drohnen- und Artillerieangriffen. Laut russischen Angaben war unter anderem ein mehrstöckiges Wohnhaus von einer Rakete getroffen worden und teilweise eingestürzt.
13.05.2024
Russland rückt in der Ostukraine vor. Gleitbomben spielen dabei eine wichtige Rolle. Der Westen verbietet Kiew den Einsatz seiner Waffen gegen Ziele in Russland. Das gilt auch für jene Basen, von wo aus die Jets starten.
Stefan Michel
15.05.2024, 05:00
15.05.2024, 08:09
Stefan Michel
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Russland hat bei Charkiw eine neue Front eröffnet und stösst rasch vor.
Die westlichen Langstreckenwaffen, die jetzt allmählich eintreffen, helfen nicht bei der Verteidigung der Stadt. Kiew darf sie nicht gegen die Armeebasen in Russland einsetzen, von denen die Angriffe ausgehen.
Der Vorstoss auf Charkiw ist vermutlich ein Ablenkungsmanöver. Moskau versucht so, die ukrainischen Truppen entlang der langen Frontlinie weiter auszudünnen.
Russland rückt vor. Und dies nicht nur, indem Moskaus Militärführung ohne Rücksicht auf Verluste Männer als Kanonenfutter vorschickt. Nördlich von Charkiw, also im äussersten Nordosten der Ukraine, hat die russische Armee eine neue Front eröffnet und ist schnell einige Kilometer über die Grenze vorgestossen.
Mittlerweile liegt die Front so weit von der russischen Grenze entfernt, dass die Ukraine russische Raketenangriffe nicht mehr mit ihren eigenen Waffensystemen vereiteln kann.
Der zunehmende Mangel an Waffen und Munition hat Russland geholfen, vorzustossen. Um Charkiw zu verteidigen, nützen die sehnlichst erwarteten Langstrecken-Waffensysteme aus den USA jedoch ohnehin wenig. Washington hat sie unter der Bedingung geliefert, dass sie nicht gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet eingesetzt werden.
Für das Institute for the Study of War steht deshalb fest: «Russland nutzt den eigenen Luftraum als sicheren Hafen, um das Gebiet Charkiw anzugreifen.»
Gleitbomben aus dem sicheren Hinterland
Die grössten Zerstörungen richten in der Grossstadt Charkiw zurzeit Gleitbomben an. Von einem Flugzeug aus abgefeuert können sie 40 bis 60 Kilometer weit segeln, bevor sie am Boden einschlagen. Charkiw liegt 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt.
Russland könne Charkiw endlos beschiessen, ohne den eigenen Luftraum zu verlassen, schliesst der US-Thinktank daraus. Zwar lasse Washington Kiew beim Einsatz der Luftwaffen-Systeme aus den USA einen gewissen Spielraum. Direkt die Basen in Russland zu beschiessen, von denen aus die tödlichen Angriffe auf Charkiw ausgehen, erlaubten die Verbündeten hingegen nicht.
Defeating Russia’s operation in Kharkiv Oblast requires defeating Russia’s glide bomb threat. Russian forces are using glide bombs launched from Russian airspace to enable Russian ground maneuver in Kharkiv Oblast. (1/3) https://t.co/RkHhuoyCCDpic.twitter.com/RpKcuLtBxR
— Institute for the Study of War (@TheStudyofWar) May 13, 2024
Russland hat das Zeitfenster, indem die USA keine Waffen mehr an die Ukraine lieferten, also genutzt, um die Front weit genug vorzuschieben, um nun aus dem sicheren Hinterland ohne jegliches Risiko verheerende Luftangriffe ausführen zu können.
Derweil diskutieren Beobachter und Teile der ukrainischen Öffentlichkeit, weshalb die russischen Truppen so leicht über die Grenze und gleich mehrere Kilometer weit auf ukrainisches Gebiet vorstossen konnten.
Ein ukrainischer Offizier erzählt der «BBC», dass es im Norden von Charkiw keine Verteidigungslinie gegeben habe – entweder aus Nachlässigkeit oder weil das Geld dafür versickert sei. Die Russen seien einfach durchmarschiert.
Der viel beachtete ukrainische Kriegsreporter Jurij Butussow schreibt, dass die Stellungen zur Verteidigung nicht an erhöhten Punkten errichtet worden seien. Zudem befänden sie sich nicht dort, wo die Kämpfe stattfinden.
Yuriy Butusov's assessment of the situation in Kharkiv oblast. He says Russian advances have slowed now that they are running into defensive positions and their losses are increasing, though he says that some of existing fortifications were built in the wrong locations. He says… pic.twitter.com/NNppOB8FIn
Kiew hält dagegen. Sie könnten in der aktuellen Lage nicht direkt an der Grenze Verteidigungsanlagen bauen. Diese würden sofort vom Feind zerstört, zitiert «t-online» den ukrainischen Beauftragten für die Bekämpfung von Desinformation. Auch weiter von der Grenze entfernt würden ihre Bauarbeiter beschossen, während sie Panzersperren und Schützengräben errichteten.
Inzwischen meldet Kiew, die Front habe sich stabilisiert, die Invasoren kämen nun weniger schnell und unter grösseren Verlusten voran.
Neue Front ist ein Ablenkungsmanöver
Glaubt man den internationalen Beobachtern, so hat der Kreml ohnehin nicht vor, Charkiw bald zu erobern. Selbst russische Kriegsblogger äusserten Zweifel, dass die Militärführung dafür genug Truppen zusammengezogen habe, wie beispielsweise der «Spiegel» berichtet.
Auch die Richtung des Vorstosses, östlich des Flusses Donez, wäre ungünstig, denn Charkiw liegt westlich des Flusses. Flussüberquerungen sind heikle und gefährliche Operationen, die Militärverbände vermeiden, wenn es möglich ist.
Vielmehr scheint es den Strategen des Kreml darum zu gehen, die ukrainischen Verteidigungskräfte in eine weitere Schlacht zu zwingen und noch mehr auseinanderzuziehen. Dies erleichtert den russischen Verbänden das Vorwärtskommen an anderen Abschnitten der über 1000 Kilometer langen Front.
Zudem will der Kreml nicht nur eine Pufferzone auf ukrainischem Boden, um die eigenen Militärbasen zu schützen. Es geht ihm auch darum, die ukrainischen Verbände weiter von Belgorod wegzudrängen. Die Ukraine nimmt die Stadt nur gut 30 Kilometer von der Grenze entfernt regelmässig unter Beschuss.
Krieg in der Ukraine
Seit Ende Februar 2022 tobt in der Ukraine nach der Invasion russischer Truppen ein erbitterter Krieg. blue News informiert dich im Ukraine-Ticker zu den aktuellen Entwicklungen rund um den Konflikt.
Für die Menschen in Charkiw und Umgebung sind Putins mutmassliche Pläne ein schwacher Trost. Täglich schlagen Dutzende Gleitbomben ein. Auch wenn Moskau die Stadt in absehbarer Zeit nicht stürmen lassen wird, trägt sie enormen Schaden davon.