Ist die EU jetzt am Ende? «Der Rechtsruck hat nicht erst bei diesen Wahlen begonnen»

Andreas Fischer

11.6.2024

EU-Bürgerinnen und Bürger kommentieren Rechtsruck

EU-Bürgerinnen und Bürger kommentieren Rechtsruck

STORY: HINWEIS: SIE ERHALTEN DIESEN BEITRAG OHNE SPRECHERTEXT Köln, Deutschland O-TON LORENZ FINK «Ja, es ist schockierend. Man weiss ja mittlerweile, dass man einen Rechtsruck hat und so, aber man ist trotzdem ein bisschen so in seiner eigenen Blase und denkt, alle wählen halt nicht so und dann ist es irgendwie doch wieder krass, wenn man das dann so schwarz auf weiss sieht, wie viel diese Parteien dann doch gewählt worden sind, auch europaweit, nicht nur hier in Deutschland.» O-TON NATJA HOFFMANN «Finde ich schade, dass die Rechten so viele Stimmen bekommen haben. In der Tat. Also ich hätte mir ein bisschen mehr Demokratie gewünscht und ich hätte mir andere Parteien gewünscht an der Stelle. CDU finde ich gut.» O-TON CHRISTIANE ABB «Ich finde es enttäuschend, dass die Grünen so schlecht abgeschnitten haben. Die einzige Partei, die wirklich was Sinnvolles tut. Und dann wird sie immer wieder boykottiert und sabotiert, auch von den Bürgern. Weil halt jeder Umweltschutz will, aber niemand auf seine Kosten.» O-TON UDO KARSTEN «Da gibt es Teile der Ampel, denen ich die Schuld dafür geben würde. Oder die müssen sich vielleicht frühzeitig trennen, wie auch immer. Da muss sich auf jeden Fall was ändern, damit es zur Bundestagswahl etwas anders laufen wird.» O-TON DIRK LOOS «Ich finde das wahnsinnig erschreckend, dass so dermassen viel rechts gewählt wird und ich habe Angst, wo das hinführt. Frankreich 38,6 Prozent Le Pen finde ich sehr, sehr erschreckend.» Paris, Frankreich O-TON GABRIEL HALLALI, 29 «Eine historische Katastrophe für unser Land. Wir haben es mit einem Frankreich zu tun, das seine Geschichte vergisst. Die Menschen müssen aufwachen, die Geschichtsbücher aufschlagen, und verstehen, dass die extreme Rechte, die extreme Linke und all die Parteien, die Zwietracht säen, uns geradewegs gegen die Wand fahren.» O-TON PAULINE DURAND, 60 «Das Ergebnis von Bardella überrascht mich nicht, wenn man bedenkt, was in der Gesellschaft passiert. Wir leben in einer Gesellschaft der Unsicherheit und der Gewalt, ohne Anerkennung unserer Arbeit. Das hat mich nicht überrascht. O-TON NATHALIE GABERT, 55 «Es mag hart klingen, aber ich verstehe nicht, warum die Franzosen so dumm und vergesslich geworden sind. Ich bitte sie inständig, am 30. Juni und 7. Juli für die Demokratie und für Frankreich zu stimmen». Budapest, Ungarn O-TON ADAM FEJES «Ich denke, Fidesz ist bei seiner Kernwählerschaft angekommen. Ich freue mich wegen der Tisza-Partei auf die nächsten Wahlen. Ich bin sicher, dass Fidesz nicht zum fünften Mal eine Zweidrittelmehrheit bekommen werden.» O-TON VIKTORIA GEORGINA ORMENY «Tisza, die müssen wir im Auge behalten. Sie haben das innerhalb von drei Monaten geschafft. Man kann sie beglückwünschen, aber Scheisse, das für die Regierungspartei beängstigend. Die müssen wir im Auge behalten.

10.06.2024

Rechts gewinnt bei der Europawahl. Bedeutet das Ergebnis das Ende der EU in ihrer jetzigen Form? Worauf müssen sich Frankreich und Deutschland einstellen? Europa-Expertin Silvana Tarlea von der Uni Basel schätzt ein.

Andreas Fischer

11.6.2024

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Nach den Europawahlen in den 27 Mitgliedsländern zeichnet sich in einigen Bereichen ein Politikwechsel ab: Das bürgerliche Lager und Rechtsaussenparteien haben vielerorts dazugewonnen.
  • Die Wahlen «bedeuten eine deutliche Machtverschiebung weg vom ‹progressiven Europa›», schätzt Politologin Silvana Tarlea von der Uni Basel ein.
  • Frankreichs Präsident Emmanuel Macron kündigte nach seiner Schlappe gegen die rechtsnationale Partei von Marine Le Pen für den 30. Juni Neuwahlen auf nationaler Ebene an.

Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien: In fast allen grossen EU-Staaten haben rechte Parteien bei der Europawahl deutlich zugelegt. Doch wird sich das wirklich auf die Politik in Brüssel auswirken? Politikwissenschaftlerin und Europaexpertin Silvana Tarlea von der Uni Basel schätzt ein.

Zur Person
zVg

Silvana Tarlea ist Politikwissenschaftlerin am Institut für European Global Studies der Universität Basel. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist der Konflikt zwischen Werten und Interessen in der europäischen Politik, den sie aus verschiedenen Blickwinkeln analysiert.

Sie werden in der öffentlichen Wahrnehmung immer etwas unterschätzt: Wie wichtig sind die Europawahlen eigentlich?

Die Wahlbeteiligung war in der Tat in den letzten Jahrzehnten oft sehr gering, in einigen Ländern auch unter 40 Prozent. Das hat sich in den vergangenen Jahren allerdings geändert. Das liegt in Teilen daran, dass in einigen Staaten parallel auch andere Wahlen abgehalten wurden. Wichtiger für das gestiegene Interesse ist allerdings, dass die Politik mittlerweile sehr stark polarisiert. Das führt dazu, dass sich Bürger sowohl aus dem linken als auch aus dem rechten Spektrum stärker beteiligen. Die Gefühle sind einfach stärker, als wenn es nur um eine Politik der Mitte ginge.

Auch wenn mehr Leute zur Wahl gehen: Welche Relevanz hat die Wahl? Welche Macht hat das Europäische Parlament überhaupt?

Das Europäische Parlament ist die einzige direkt gewählte Institution der EU. Die Wahl ist also die einzige Möglichkeit für die Bürger, sich direkt an der EU zu beteiligen. Ganz so machtlos ist das Europäische Parlament auch nicht mehr, dafür haben sich die Abgeordneten in den letzten zehn, zwanzig Jahren eingesetzt.

So stellt etwa das Europäische Parlament die Spitzenkandidat*innen auf, und die Kommission muss von den Parlamentarier*innen bestätigt werden. Das ist ein nicht zu unterschätzender Einfluss auf die Politik in Brüssel.

Kommt hinzu, dass das Parlament über den EU-Haushalt entscheidet: Das ist derzeit insbesondere relevant, weil es zum Beispiel wegen des Krieges in der Ukraine zusätzliche Haushaltsmittel freigeben muss. Auch bei internationalen Abkommen der EU, etwa Handelsabkommen, muss das Parlament zustimmen.

Frankreich hat nach der Europawahl bereits nationale Neuwahlen angekündigt, in Deutschland werden entsprechende Forderungen laut: Wie nachhaltig hat diese Wahl Europa in den EU-Staaten selbst verändert?

Die Europawahlen sind in vielerlei Hinsicht geprägt von der nationalen Politik in den einzelnen Ländern, und zwar oft mehr als von der europäischen Politik. In diesem Jahr hat man das noch deutlicher gesehen als bei vorangegangenen Wahlen. Dass Emmanuel Macron Neuwahlen in Frankreich angesetzt hat, ist das beste Beispiel dafür.

Wie schlimm ist der Rechtsruck bei der Europawahl wirklich?

Der Rechtsruck ist in einigen Ländern, etwa in Frankreich, stärker gewesen, als erwartet. Aber nicht in allen. Die konservative Europäische Volkspartei hat die meisten Sitze gewonnen. Klar ist jedoch: Das neu gewählte Europäische Parlament ist das am weitesten rechts stehende Europaparlament, das je gewählt wurde. Dieser Rechtsruck hat jedoch nicht erst mit diesen Wahlen begonnen, sondern sich in den letzten Jahren auf europäischer und auf nationaler Ebene kontinuierlich verstärkt. Es ist zu erwarten, dass dies Auswirkungen auf verschiedene Politikbereiche haben wird.

Ursula von der Leyen muss trotz Wahlsieg ihrer konservativen EVP um ihr Amt zittern: Wo soll sie die Stimmen hernehmen? Und wie weit darf sie dabei nach rechts gehen?

Letztendlich hat die Europäische Volkspartei die Wahlen gewonnen. Die Chancen von Ursula von der Leyen, erneut Kommissionspräsidentin zu werden, sind intakt. Freilich muss sie genau überlegen, wie sie eine Mehrheit bekommen kann. Es ist ein sehr schmaler Grat, auf dem sie wandelt. Sie wird auf jeden Fall Zugeständnisse machen müssen und wahrscheinlich die Sozialdemokraten und die Liberalen mit der EVP in einer grossen Koalition vereinen. Dann wäre sie nur noch auf wenige andere Stimmen angewiesen. Ich würde auf jeden Fall erwarten, dass die Rechtsaussen-Parteien im neuen Parlament auch aussen vor bleiben und nicht zum Königinnenmacher werden.

Welchen Einfluss hat denn das Rechtsaussenlager überhaupt?

Diese Parteien sind keine homogene Gruppe, die zusammenhält. Aussenpolitisch haben sie sehr unterschiedliche Ansätze, zum Beispiel in der Russlandpolitik. Das einzige, was sie eint, ist ihre generell rechtsnationale Ausrichtung.

Ganz zahnlos sind die Parteien am rechten Rand dann aber auch nicht: Bei der Migrationspolitik werden sie sicherlich Druck machen, oder?

Man kann erwarten, dass sich einiges langsam ändern könnte. Aber in der Europapolitik dauert es immer recht lange, bis Änderungen greifen. Es wird auf jeden Fall keine unmittelbare Umsetzung der Versprechen der Parteien geben. Immerhin hatte bereits die EVP vorgeschlagen, die Zahl der Frontex-Mitarbeiter zu verdreifachen und die Agentur zu einer «echten europäischen Grenz- und Küstenwache» auszubauen.

Wie bereits erwähnt: Man sieht den Rechtsruck bei den Europawahlen weniger auf der europäischen Ebenen als auf den nationalen Ebenen. Die Auswirkungen sind in einigen Ländern, etwa Frankreich, viel stärker, als gesamthaft in der EU. Hier wurde ganz klar nicht über Europa abgestimmt, sondern über die nationale Politik.

Welche Auswirkungen hat das Ergebnis der Europawahl auf die Verhandlungen zwischen der Schweiz und Brüssel über einen neuen EU-Vertrag?

Die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU werden auf der europäischen Seite von der Kommission geführt. Es ist davon auszugehen, dass die Verhandlungen weitergeführt werden, sodass kein grosser Einfluss des Wahlergebnisses zu erwarten ist. Die Kommission wird im Herbst neu gewählt, es ist nicht auszuschliessen, dass die Dossiers dann neu verteilt werden. Aber es sind Karrierediplomaten, die die Verhandlungen führen, diese Personen müssen sich im Herbst nicht unbedingt ändern.

Die Co-Vorsitzenden der AfD, Alice Weidel und Tino Chrupalla jubeln über den Rechtsruck bei der Europawahl.
Die Co-Vorsitzenden der AfD, Alice Weidel und Tino Chrupalla jubeln über den Rechtsruck bei der Europawahl.
Joerg Carstensen/dpa