Gefangenenlager in Syrien Darum holt die Schweiz Kinder von Dschihadisten nicht zurück

Von Andreas Fischer

12.10.2021

Für Kinder von Schweizer IS-Frauen führt zurzeit kein Weg raus aus den Gefangenenlagern im Nordosten Syriens.
Für Kinder von Schweizer IS-Frauen führt zurzeit kein Weg raus aus den Gefangenenlagern im Nordosten Syriens.
Bild: AP

Weil die Schweiz hart bleibt und keine erwachsenen Dschihad-Reisenden zurücknimmt, müssen auch deren Kinder in Gefangenenlagern in Syrien bleiben. 

Von Andreas Fischer

Die Zustände sind menschenunwürdig, die Lager überfüllt: Nach dem Ende des selbsternannten Kalifats der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) leben Tausende Dschihadisten in Gefangenenlagern im Nordosten Syriens. UN-Angaben zufolge sind darunter zahlreiche Ausländer und deren Kinder, auch Schweizer Staatsangehörige.

Wie die Hilfsorganisation Save the Children in einem vor Kurzem veröffentlichten Bericht mitteilte, seien allein im Camp Al-Hol in diesem Jahr bereits 62 Kinder gestorben. Todesursachen seien etwa Brände in den Zeltstädten, Unterernährung sowie vermeidbare Krankheiten. «Jeder Tag, an dem ausländische Kinder und ihre Familien in den Lagern bleiben, ist ein weiterer Tag, an dem sie von ihren Regierungen im Stich gelassen werden», fand Sonia Khush, Landesdirektorin von Save the Children in Syrien, deutliche Worte.

«Die Rückführung von Kindern ist immer möglich und wird von Fall zu Fall aktiv geprüft»: So antwortete im Mai 2021 der Bundesrat auf eine Interpellation von SP-Ständerat Carlos Sommaruga. Doch in der Praxis geschieht nichts. Die Schweiz ist sehr restriktiv, wenn es darum geht, dschihadistisch motivierte Reisende mit rotem Pass wieder einreisen zu lassen.

Davon betroffen sind auch deren Kinder. Laut SEM haben sie auch dann das Schweizer Bürgerrecht, wenn sie im Ausland geboren wurden. Vorausgesetzt, es ergeht eine entsprechende Meldung bei einer Schweizer Behörde. Dies kann bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres erfolgen.

«Die Kinder trifft keine Schuld an ihrer Lage»

In anderen Ländern ist man weniger strikt. So hat Belgien die beiden Kinder eines Waadtländer Dschihadisten zurückgeholt, wie der «Tages-Anzeiger» berichtet. Die Mutter ist belgische Staatsbürgerin. Sie sei nach der Ankunft ins Gefängnis gebracht worden, um eine in Abwesenheit gesprochene fünfjährige Haftstrafe zu verbüssen.

Die Kinder zurückholen, die Mütter juristisch zur Verantwortung ziehen: So verfährt auch Deutschland. In einer Rückholaktion hat die Bundesregierung in der vergangenen Woche acht mutmassliche IS-Unterstützerinnen und ihre 23 Kinder nach Deutschland fliegen lassen. Während die meisten Mütter umgehend in Untersuchungshaft kamen, kümmern sich Fürsorgeeinrichtungen um die Kinder.

«Die Kinder trifft keine Schuld an ihrer Lage. Es ist richtig, dass wir alles dafür tun, ihnen ein Leben in Sicherheit und einem guten Umfeld zu ermöglichen», erklärte der deutsche Aussenminister Heiko Maas. Er betonte aber, dass sich die Mütter «vor der Strafjustiz für ihr Handeln verantworten müssen».

Ein zerbrochenes Schwert als einziges Spielzeug: Im Gefangenenlager Al-Hol in der Provinz Hasakeh im Nordosten Syriens leben etwa 27'000 Minderjährige ohne Zugang zu ausreichend Nahrung und Bildung.
Ein zerbrochenes Schwert als einziges Spielzeug: Im Gefangenenlager Al-Hol in der Provinz Hasakeh im Nordosten Syriens leben etwa 27'000 Minderjährige ohne Zugang zu ausreichend Nahrung und Bildung.
AP

«Terroristen von morgen»

Auch für Belgiens Ministerpräsident Alexander de Croo stehe bei Rückholaktionen das «Wohlergehen» der Kinder inmitten einer sich verschlechternden humanitären und Sicherheitslage in den Lagern im Nordosten Syriens im Mittelpunkt. Für den liberalen Politiker ist es zudem eine Frage der «Sicherheit», die Kinder und ihre Mütter zurückzuholen. Einerseits seien Rückkehrer zu Hause besser zu überwachen, anderseits könne damit verhindert werden, dass Kinder in den kurdischen Internierungslagern zu den «Terroristen von morgen» werden.

Der Bundesrat argumentiert in einem Entscheid vom 8. März 2019 hingegen, dass «die Sicherheit der Schweiz und der Schutz ihrer Bevölkerung» vor «Individualinteressen» gehen. Eine aktive Rückführung von erwachsenen IS-Anhängern aus den kurdischen Gefängnissen und Internierungslagern ist nicht vorgesehen.

Auf Anfrage von blue News bestätigt das zuständige Eidgenössische Departement für äussere Angelegenheiten (EDA), dass der Entscheid weiterhin Bestand hat. Eine Rückführung Minderjähriger könne laut EDA-Sprecher Pierre-Alain Eltschinger nur dann in Betracht gezogen werden, wenn sie dem Kindeswohl dient. «Das EDA unterhält die notwendigen Kontakte zu den zuständigen Behörden in der Schweiz und im Ausland, um Lösungen für eine mögliche Rückführung von Minderjährigen zu finden.»

Mütter wollen ihre Kinder nicht alleine zurückschicken

Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) geht derzeit davon aus, dass sich «fünf Kinder, die zumindest einen Elternteil mit Schweizer Bürgerrecht haben, im Konfliktgebiet befinden», wie Kommunikationschefin Isabelle Graber auf blue News-Nachfrage mitteilte. 

Für sie besteht im Moment keine Chance auf eine Repatriierung. Der Demokratische Rat Syriens (SDC), die kurdische De-facto-Regierung auf dem Gebiet des ehemaligen IS-Kalifats, würde die Trennung von Mutter und Kindern nicht genehmigen, es sei denn, die Mutter stimme zu oder es liegen humanitäre Gründe vor, erklärt das EDA. Bisherige Kontakte waren nicht erfolgreich, so Pierre-Alain Eltschinger, «da die Mütter nicht wollen, dass die Kinder ohne sie zurückgeschickt werden».

Viele Mütter befürchteten, ihre eigene Rückkehr zu gefährden, wenn ihre Kinder einmal repatriiert sind, nennt Politologin Vera Mironova in der «Wochenzeitung» einen der wichtigsten Gründe für die Weigerungen. Dabei hätten die kurdischen Behörden gemäss «Tages-Anzeiger» zuletzt Gesprächsbereitschaft signalisiert. Sie seien etwa bereit gewesen, zwei Genfer Mädchen (9 und 15 Jahre) auch ohne ihre Mutter ausreisen zu lassen. Doch die Kinder wollen ihre Mutter nicht allein im Lager lassen.

Wenn die Kinder ihre Mütter nicht zurücklassen wollen und die Mütter ihre Kinder nicht gehen lassen, dann sei die einzige realistische Lösung die Rückführung der Kinder zusammen mit ihren Müttern, sagt Mironova. Dies hatte Carlo Sommaruga in seiner Interpellation angeregt und dies habe laut «Wochenzeitung» auch die UN-Sonderbeauftragte für Menschenrechte, Fionnuala Ni Aolain, in einem Schreiben an die Schweizer Behörden gefordert.