In Tampon geschmuggeltDatenkarte einer ukrainischen Sanitäterin zeigt das Grauen des Krieges in Mariupol
Von Vasilisa Stepanenko und Lori Hinnant, AP/tpfi
21.5.2022
Zum letzten Mal wurde Taira in einer russischen Nachrichtensendung gesehen - benommen und ausgezehrt. Mit einer Körperkamera hatte sie die Schrecken des Krieges dokumentiert. AP-Journalisten haben die Aufnahmen der berühmten Sanitäterin aus der Stadt geschmuggelt.
Von Vasilisa Stepanenko und Lori Hinnant, AP/tpfi
21.05.2022, 00:00
21.05.2022, 14:20
Von Vasilisa Stepanenko und Lori Hinnant, AP/tpfi
Die in einem Tampon aus Mariupol geschmuggelte Datenkarte offenbart das Grauen des Krieges in der ukrainischen Hafenstadt. Sie ist nicht grösser als der Nagel eines Daumens. Angefertigt wurden die Beweise von der gefeierten Sanitäterin Julija Pajewska, die in der Ukraine als Taira bekannt ist. Den Spitznamen hat sie dem von ihr gewählten Namen in dem Videospiel «World of Warcraft» entlehnt.
Jetzt ist Taira in den Händen der Russen - ganz wie Mariupol, das kurz vor dem Fall steht. Mit einer Körperkamera hat sie Aufnahmen im Umfang von 256 Gigabyte angefertigt. Sie zeigen das verzweifelte Bemühen ihres Teams, Menschen vor dem Tod zu bewahren. Sie liess die erschütternden Aufnahmen einem Team der Nachrichtenagentur AP zukommen, als dieses Mariupol in einem der seltenen humanitären Konvois verliess. Die AP-Leute waren die letzten internationalen Journalisten in der Stadt am Asowschen Meer gewesen.
Taira von Russen als «Nationalistin» abgestempelt
Tags darauf, am 16. März, nahmen russische Soldaten Taira und ihren Fahrer Serhij fest. Es ist einer von vielen Fällen erzwungenen Verschwindens in nun von Russland gehaltenen ukrainischen Gebieten. Russland hat es so dargestellt, dass Taira für das nationalistische Asow-Regiment gearbeitet habe. Die Behauptung steht im Einklang mit dem russischen Narrativ, Moskau versuche das Land zu «entnazifizieren». Die AP konnte keine Beweise finden, die dies stützen. Freunde und Kollegen von Taira sagen, sie habe keine Verbindungen zu dem Regiment gehabt.
Auch das Militärkrankenhaus, in dem sie Evakuierungen von Verletzten leitete, steht nicht in einem Zusammenhang mit dem Bataillon, dessen Mitglieder wochenlang das weitläufige Azovstal-Stahlwerk verteidigt haben. Die Aufnahmen, die sie angefertigt hat, bezeugen die Tatsache, dass Taira versuchte, russische Soldaten wie ukrainische Zivilisten zu retten.
Sanitäterin half auch russischen Soldaten
Ein am 10. März aufgenommener Clip zeigt zwei russische Soldaten, die von einem ukrainischen Soldaten grob aus einem Krankenwagen geholt werden. Einer sitzt im Rollstuhl. Der andere kniet mit hinter dem Rücken gefesselten Händen und einer offensichtlichen Beinverletzung. Ihre Gesichter sind mit Mützen verdeckt, sie tragen weisse Armbänder. Ein ukrainischer Soldat beschimpft einen der Russen. «Beruhig dich, beruhig dich», sagt Taira zu ihm.
Eine Frau fragt sie: «Wirst du die Russen behandeln?» Taira antwortet: «Zu uns werden sie nicht so freundlich sein», und: «Aber ich könnte nicht anders. Sie sind Kriegsgefangene.»
Nun ist Taira selbst eine Gefangene der Russen. Eine von Hunderten bekannten Ukrainern, die entführt oder gefangen genommen wurden. Darunter lokale Amtsträger, Journalisten, Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger.
Russen deportieren Ukrainer
Die Beobachtermission der Vereinten Nationen in der Ukraine hat 204 Fälle erzwungenen Verschwindens dokumentiert. Sie sagt, einige der Opfer könnten gefoltert worden sein. Fünf seien später tot gefunden worden. Das Büro der ukrainischen Ombudsfrau sagt, es habe bis Ende April Berichte über Tausende Vermisste erhalten, von denen 528 wahrscheinlich gefangen genommen wurden.
Die Russen zielen auch auf medizinisches Personal und Krankenhäuser ab, obwohl die Genfer Konventionen den Schutz von militärischen und zivilen Medizinern und Sanitätern unter allen Umständen vorsehen. Die Weltgesundheitsorganisation hat seit Ausbruch des Krieges mehr als 100 Attacken auf das Gesundheitswesen verifiziert - eine Zahl, die wahrscheinlich steigen wird.
Am 8. Mai zogen russische Soldaten eine Frau aus einem Konvoi aus Mariupol. Sie beschuldigten sie, eine Militärsanitäterin zu sein. Sie zwangen sie, zu entscheiden, ob ihre vierjährige Tochter sie auf dem Weg in ein unbekanntes Schicksal begleitet oder allein in von der Ukraine kontrolliertes Gebiet weiterreist. Die beiden wurden getrennt. Die Tochter schaffte es nach UN-Angaben nach Saporischschja.
1700 Kämpfer sollen sich ergeben haben
«Es geht nicht darum, eine bestimmte Frau zu retten», sagte Oleksandra Tschudna, die als freiwillige Sanitäterin 2014 mit Taira zusammengearbeitet hat. «Taira wird die Sanitäter und Frauen repräsentieren, die an die Front gegangen sind.»
Tairas Schicksal erhält neue Bedeutung, während die letzten Verteidiger Mariupols in russische und von Russland kontrollierte Gebiete evakuiert werden. Russland bezeichnet es als Massenkapitulation, die Ukraine spricht von einer erfüllten Mission.
Nach russischen Angaben haben sich in dieser Woche mehr als 1700 ukrainische Kämpfer in Mariupol ergeben. Das Geschehen wirft ein neues Schlaglicht auf die Behandlung von Gefangenen. Die Ukraine hofft auf einen Gefangenenaustausch mit Russland. Doch der Präsident des russischen Unterhauses, Wjatscheslaw Wolodin, wirft den Ukrainern ohne Beweise Kriegsverbrechen vor und sagt, sie sollten vor Gericht gestellt werden.
Blutergüsse im Gesicht
Die ukrainische Regierung sagt, sie habe versucht, Tairas Namen schon vor Wochen einem Gefangenenaustausch hinzuzufügen. Russland bestreitet jedoch, sie in der Gewalt zu haben - trotz ihres Erscheinens in Fernsehsendern in der von prorussischen Separatisten kontrollierten Region Donezk im ukrainischen Donbass, in Handschellen und mit Blutergüssen im Gesicht. Die ukrainische Regierung wollte mit der AP nicht über den Fall sprechen.
Die 53-jährige Taira ist in der Ukraine als Star-Athletin bekannt und als die Frau, die die freiwilligen Sanitäter des Landes ausgebildet hat. Ihre Aufnahmen und die Beschreibungen ihrer Freunde zeichnen das Bild einer überschwänglichen Persönlichkeit mit einer telegenen Präsenz.
Die Videos sind eine intime Aufzeichnung von Februar bis zum 10. März aus einer Stadt unter Belagerung. Sie sind inzwischen zum weltweiten Symbol des russischen Angriffskrieges und des ukrainischen Widerstands geworden. Darin ist Taira ein Wirbelwind aus Energie und Trauer. Sie nimmt den Tod eines Kindes auf und die Behandlung von Soldaten beider Seiten.
«Wir behandeln alle gleich»
Am 24. Februar, dem ersten Tag des Krieges, filmte Taira die Bemühungen, die offene Kopfwunde eines ukrainischen Soldaten zu bandagieren. Zwei Tage später wies sie Kollegen an, einen verletzten russischen Soldaten in eine Decke zu wickeln. «Deckt ihn zu, weil er zittert», sagt sie in dem Video. Sie nennt den jungen Mann «Sonnenschein» - ein bevorzugter Spitzname für die vielen Soldaten, die durch ihre Hände gehen. Sie fragt ihn, wieso er in die Ukraine gekommen sei. «Du kümmerst dich um mich», sagt der junge Mann fast ungläubig. Ihre Antwort: «Wir behandeln alle gleich.»
Später in der Nacht kommen zwei Kinder - ein Bruder und eine Schwester - schwer verwundet nach einem Schusswechsel an einem Kontrollposten an. Ihre Eltern sind tot. Am Ende der Nacht ergeht es dem kleinen Jungen trotz Tairas Flehen, «bleib bei mir, Kleiner», genauso. Taira wendet sich von dem leblosen Körper ab und weint. «Ich hasse (das)», sagt sie und schliesst die Augen des Jungen.
Während sie draussen in der Dunkelheit beim Rauchen mit jemandem spricht, sagt sie: «Der Junge ist fort. Der Junge ist gestorben.» Bei dem Mädchen werde noch versucht, es wiederzubeleben. «Vielleicht wird sie überleben.»
AP-Journalisten bringen Datenkarte in Sicherheit
An einer Stelle schaut Taira in einen Badezimmerspiegel, ihr blonder Haarschopf, die rasierten Seiten ihres Kopfes kontrastierend, fällt ihr in die Stirn. Immer wieder klagt sie über chronische Schmerzen durch Rücken- und Hüftverletzungen, die eine teilweise Behinderung zur Folge hatten. Sie umarmt Ärzte. Sie schaltet die Kamera ab. Sie macht Witze, um entmutigte Krankenwagenfahrer und Patienten aufzuheitern. Und immer trägt sie ein Stofftier an ihrer Weste, um es Kindern geben zu können, die sie behandelt.
Mit einem Ehemann und einer jugendlichen Tochter wusste Taira, was der Krieg einer Familie antun kann. An einer Stelle bittet sie ein verletzter ukrainischer Soldat, seine Mutter anzurufen. Sie sagt ihm, er werde das selbst tun können, «also mach sie nicht nervös».
Am 15. März überreichte ein Polizist die Datenkarte den AP-Journalisten, die Gräueltaten in Mariupol dokumentierten, darunter einen russischen Luftangriff auf eine Entbindungsklinik. Taira bat die Journalisten über ein Funkgerät, die Karte sicher aus der Stadt zu bringen, die in einem Tampon versteckt war. Das AP-Team passierte 15 russische Kontrollpunkte, bevor es ukrainisches Territorium erreichte.
Taira seit Gefangennahme verschwunden
In einem Video, das bei einer russischen Nachrichtensendung am 21. März ausgestrahlt wurde, wurde Tairas Gefangennahme verkündet. Sie wurde beschuldigt, versucht zu haben, verkleidet aus der Stadt zu fliehen. Taira sieht benommen und ausgezehrt aus, als sie eine Erklärung vorliest, die unterhalb der Kamera positioniert ist. Sie fordert ein Ende der Kämpfe. Während sie spricht, verspottet eine Stimme aus dem Off ihre Kollegen als Nazis. Es ist eine Sprache, die widerspiegelt, wie Russland die Kämpfer aus Mariupol beschreibt.
Die Ausstrahlung markiert das letzte Mal, dass Taira gesehen wurde.
Sowohl die russische als auch die ukrainische Regierung haben Befragungen von Kriegsgefangenen veröffentlicht - obwohl das Völkerrecht diese Praxis als unmenschlich und erniedrigend bezeichnet.
Russische Lügen-Propaganda
Tairas Mann, Wadim Pusanow, sagt, er habe wenig Neuigkeiten über seine Frau seit ihrem Verschwinden erhalten. Seine Worte sorgfältig abwiegend, beschrieb er konstante Sorge und Zorn darüber, wie sie von Russland porträtiert wurde. «Eine freiwillige Sanitäterin aller Todsünden, einschliesslich Organhandels, zu beschuldigen, ist schon abscheuliche Propaganda - Ich weiss nicht einmal, für wen das gedacht ist», sagte er.
Raed Saleh, der Kopf der syrischen Weisshelme, verglich Tairas Situation mit dem, was Freiwilligen seiner Organisation in Syrien zuteil wurde und noch zuteil wird. Auch seiner Gruppe sei Organhandel und Kontakt zu Terroristen vorgeworfen worden. «Morgen werden sie sie vielleicht drängen, Statements abzugeben, und Druck ausüben, Dinge zu sagen.»
Taira hat in der Ukraine wegen ihrer Reputation eine besondere Bedeutung. Sie unterrichtete Aikido-Kampfkunst und arbeitete nebenbei als Sanitäterin. Sie nahm ihren Namen 2013 an, als sie sich Freiwilligen Sanitätern bei den Euromaidan-Protesten anschloss, die eine von Russland unterstützte Regierung aus dem Amt jagten.
Kriegsberichterstattung statt Invictus Games
Taira ging in den Donbass, wo von Moskau unterstützte Separatisten gegen ukrainische Soldaten kämpften. Dort lehrte sie taktische Medizin und schuf eine Gruppe von Sanitätern namens «Tairas Engel». Sie arbeitete auch als Verbindungsperson zwischen Militär und Zivilisten in Frontstädten, wo nur wenige Ärzte und Krankenhäuser zu operieren wagten. 2019 ging sie nach Mariupol, und ihre medizinische Einheit war dort stationiert.
Taira war ein Mitglied der ukrainischen Invictus Games für Veteranen des Militärs. Sie sollte bei den Invictus Games im Bogenschiessen und Schwimmen antreten. Der Veranstalter Invictus teilte mit, sie sei von 2018 bis 2020 Militärsanitäterin gewesen, sei aber inzwischen demobilisiert worden.
Ihre Körperkamera erhielt sie 2021, um Aufnahmen für eine Netflix-Doku-Reihe über inspirierende Personen zu machen - produziert vom britischen Prinz Harry, der die Invictus Games ins Leben rief. Doch als Russland in der Ukraine einmarschierte, filmte sie stattdessen verletzte Zivilisten und Soldaten.
Jetzt, da Mariupol am Abgrund steht, ist dieses Filmmaterial besonders ergreifend. In einem der letzten Videos, die Taira aufgenommen hat, sitzt sie neben ihrem Fahrer Serhij, der mit ihr verschwunden ist. Es ist der 9. März. «Zwei Wochen Krieg. Belagertes Mariupol», sagt sie leise. Dann flucht sie, ohne ein bestimmtes Ziel. Und der Bildschirm wird dunkel.