Nahost-Expertin über SyrienWie konnte das Assad-Regime so schnell kollabieren?
Dominik Müller
11.12.2024
Nach dem Sturz von Assad steht Syrien an einem Wendepunkt. Wie es nun weitergehen könnte und was für Auswirkungen die Revolution auf die umliegenden Mächte hat, ordnet Nahost-Expertin Bente Scheller ein.
Dominik Müller
11.12.2024, 04:30
11.12.2024, 07:42
Dominik Müller
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Seit 2000 regierte Baschar al-Assad als Präsident von Syrien, am 8. Dezember 2024 eroberten Syer*innen die Hauptstadt Damaskus, angeführt von der Islamisten-Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS).
Laut Nahost-Expertin Bente Scheller begünstigte Israels Schwächung der iranischen Präsenz den Umsturz.
Der Sturz Assads schaffe Raum für Reformen und zivilgesellschaftliche Entwicklungen, doch die Gefahr von Konflikten und ungelösten Machtfragen bleibe bestehen.
Nach der Schreckensherrschaft des Assad-Regimes in Syrien stellt sich unter anderem die Frage, was mit dem riesigen Machtapparat geschieht. Syrien-Expertin Bente Scheller sieht nun die Voraussetzungen für eine ausgleichende, pluralistische Ordnung günstig.
Frau Scheller, jahrelang hiess es, Assad sitze fest im Sattel. Wie konnte das Regime so schnell kollabieren?
Stabilität durch Diktatoren ist Wunschdenken: Assads Regime beruhte nicht auf dem starken Rückhalt in der Bevölkerung, den er mit über 90 Prozent abgegebener Stimmen bei den Präsidentschaftswahlen für sich glaubhaft machen wollte. Seine Gegner hat er brutal bekämpft, seine Getreuen eingeschüchtert, indem er sich als ihre einzige Hoffnung dargestellt hat.
Weil er so erpicht darauf war, seine Macht um jeden Preis zu erhalten, hat er das Gewaltmonpol des Staates nicht mehr durch die Institutionen ausüben lassen, sondern fast nur noch über den Geheimdienst und marodierende, mafiöse Milizen geherrscht – und natürlich mit der militärischen Unterstützung Russlands und des Irans. Nachdem Assad insbesondere die russischen Bemühungen einer Normalisierung immer wieder ins Leere laufen liess, hat Putin sich entschieden, ihn fallen zulassen.
Der Nahe Osten wurde nach jedem Angriff auf Israel neu geordnet: Welche Rolle hat Israel beim Umsturz in Syrien gespielt?
Zur Person
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Bente Scheller leitet das Referat für den Nahen Osten und Nordafrika bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Diese steht den deutschen Grünen nahe.
Die israelische Strategie, Iran zurückzudrängen und die wichtigste verbündete Miliz des Irans durch das Auslöschen ihrer Führungselite zu schwächen, hat das vorherige und zentrale Engagement Irans unmöglich gemacht. Insofern hat dies für die HTS-Offensive eine günstige Situation geschaffen.
Dass die Syrer*innen aus allen Landesteilen jedoch den Mut gefasst haben – nachdem gegen sie Fassbomben und Chemiewaffen eingesetzt wurden, das Regime Tausende zu Tode gefoltert und die Hälfte der Bevölkerung vertrieben hat –, ist ein Verdienst, dass sich die Syrer absolut selbst auf die Fahne schreiben und auf das sie stolz sein können.
Trump hat gesagt, die USA sollten sich aus Syrien heraushalten. Ist das nicht ein Freibrief für die Türkei, Iran, Russland und andere lokale Mächte?
Trump hat in seiner ersten Amtszeit eine Strategie für den Nahen Osten vermissen lassen. Als verlässlicher Partner wird er daher nicht gesehen – und einen solchen würden die Kurden in Nordost-Syrien gebrauchen können, um sich behaupten zu können. Nur haben wir auch immer wieder rasche Volten in der Aussenpolitik gerade zu Syrien gesehen. Es wird sich zeigen müssen, was Trump letztlich tut.
Syrien war jahrzehntelang ein säkular geführter Staat. Könnte dies bei der Neugestaltung helfen?
Viele Syrer*innen haben Assads Herrschaft nicht als säkular sondern als konfessionell beschrieben. Das Zusammenleben der Konfessionen hat Hafis al-Assad (Vater von Baschar al-Assad und ehemaliger Präsident Syriens, Anm. d. Red.) nicht erfunden, sondern bei seinem Putsch so vorgefunden.
Nur hat sein alles durchdringendes Geheimdienstsystem dafür gesorgt, Misstrauen bis tief in die Familien hinein zu säen und Orte des gemeinsamen Miteinanders zu verwehren. Das hat dazu geführt, dass Begegnungen oft nach Konfessionen getrennt stattgefunden haben und die einzelnen Gruppen nebeneinander hergelebt haben.
Welche Rolle spielen die Kurden, welche die Christen?
Aus der Kultur und dem gesellschaftlichen Miteinander sind sie nicht wegzudenken. Viele Syrer*innen sind auch stolz auf das gesamte Kulturerbe, das sich im Land niederschlägt, nicht nur in Bauwerken sondern, auch Traditionen. Allerdings sind über die Jahre viele Christen ausgewandert – aus Furcht vor Islamisten, aber auch, weil die Perspektivlosigkeit der Situation vielen das Vertrauen genommen hat.
Das Regime hat stets die Angst vor «den Anderen» geschürt, so dass die Verunsicherung gross ist – und insbesondere, nachdem das Regime alles einfach aufgegeben hat, ohne selbst Anstrengungen zu einer Verhandlungslösung zu suchen. Die hat das Regime ja jahrelang torpediert.
Für die Kurden ist die Zukunft auch ungewiss, aber rund 300'000 von ihnen hatten keine Staatsbürgerschaft unter dem Assad-Regime. Kurdische Traditionen und Kultur waren dort auch nicht willkommen und politische Rechte schon gar nicht. All dies zu verhandeln, dürfte jetzt besser möglich sein als zuvor – sofern auch die Türkei Zurückhaltung übt.
Assad ist Alawit und baute sein Regime stark auf Angehörige seiner eigenen Minderheit auf, aber nicht nur: Auch Sunniten wie seine Frau Asma al-Assad waren stark eingebunden. Die Sunniten stellen die Mehrheit in Syrien. Werden diese künftig das Sagen haben?
Die Sunniten stellen die Bevölkerungsmehrheit und sie standen auch im Fokus von Assads Verfolgung und Vertreibung. Insofern fürchte ich, dass hier viele noch eine Rechnung offen haben, und hoffe, dass es die Möglichkeit von Gerichtsverfahren für das von allen Seiten unterschiedlich erlebte Unrecht geben wird. Das wäre der beste Garant gegen Rache und weiteres Unrecht.
Die Hisbollah und der Iran sind die beiden grossen Verlierer. Ist das auch eine Chance für den Libanon, eine neue Ordnung aufzubauen?
Das wäre wünschenswert. So gebeutelt wie das Land von Finanzkrise, Corona, Hafenexplosion und der politischen Krise ist, wäre es fantastisch, wenn es hier mit einer neuen Regierung einen neuen Auftakt gäbe. Nur ist die Hisbollah nicht das einzige Problem des Libanons.
Hier müsste ein insgesamt reformbedürftiges System sich neu erfinden – das könnte gerade in Zeiten regionaler Unwägbarkeiten schwierig sein. Auch ist der Krieg, den Israel im Libanon führt, ja nicht vorbei, sondern momentan handelt es sich lediglich um eine Waffenruhe, die Ende Januar ausläuft.
Bleibt die Hisbollah respektive der Iran dennoch ein Machtfaktor in Syrien und im Libanon?
Die Erfahrungen, die sie hier gemacht hat, waren schlecht. In den letzten Tagen Assads hat eine Gruppe von Hisbollah-Kämpfern die Grenze überquert und ist auf der syrischen Seite sofort von Israel bombardiert worden. Letztlich war es auch der Einsatz in Syrien, der erst das effektive Vorgehen Israels gegen die Hisbollah ermöglicht hat, da durch Bewegungsmuster und Infiltration die Strukturen der Hisbollah zu einem offenen Buch über die streng geheim gehaltenen Hierarchien der Organisation gemacht hat.
Nach dem Umsturz arbeitet die Milizen-Allianz nun am Aufbau einer Übergangsregierung. Welche Szenarien sehen Sie für Syrien?
Auch, wenn die Gefahr besteht, dass keine ausgleichende, pluralistische Ordnung gefunden werden kann und auf dem Weg in eine besser Zukunft viele Fallstricke lauern: So gut waren die Voraussetzungen noch nie. Viele Netzwerke in und ausserhalb Syriens haben an Plänen für Verfassungsreformen und andere Weichenstellungen einer zivilen Ordnung gearbeitet – und bis jetzt geht es in recht geordneten Bahnen in Syrien vonstatten, was in einer Umbruchsituation nicht selbstverständlich ist.
Welche Szenarien sehen Sie für den gesamten Nahen Osten?
Wichtige Weichen werden innersyrisch aber auch durch die anderen Staaten der Region gestellt. Iran ist nachhaltig geschwächt, ebenso die Hisbollah, deren Macht nicht nur in der Region sondern auch im Libanon selbst sich massgeblich verändert hat. Für die Türkei wird wichtig sein, wie sich die Situation im Norden weiterentwickelt und wie Syrien künftig verfasst sein wird – als Zentralstaat wie bislang, oder mit weitgehender Autonomie der Regionen – also auch der Kurden?
Israel spricht davon, sich andere Beziehungen mit Syrien vorstellen zu können. Doch das militärische Vorgehen ist auch eine Gefahr – für die innersyrischen Diskussionen und für konstruktivere Beziehungen in der Zukunft. Denn gerade jetzt finden die stärksten israelischen Bombardierungen in Syrien statt, rückt Israel auf dem von ihm ohnehin bereits völkerrechtswidrig teilweise besetzten Golan weiter fort – das deutet nicht auf eine ausgestreckte Hand hin.
Und welches Szenario ist für Sie das wahrscheinlichste?
Nur durch den Sturz Assads ist ein Neuanfang in Syrien überhaupt möglich. So unbeschreiblich grausam, wie das Regime geherrscht und damit selbst Akteure wie den IS um ein Vielfaches übertroffen hat, hätten bleierne Jahre der Friedhofsruhe bevorgestanden – bei einem weiterhin hohen Preis für die Zivilbevölkerung.
Als der Konflikt von aussen längst als «eingefroren» beschrieben wurde, sind weiterhin täglich 20 bis 30 Menschen zu Tode gekommen. Trotz aller Risiken denke ich, die Zeichen standen seit 2011 nicht mehr so positiv. Die syrische Bevölkerung hat mit unglaublichem Mut und Entschlossenheit Assads Regime und den IS gestürzt. Das Wichtigste ist geschafft, aber das Schwierigste steht vielleicht noch bevor und es ist ein langer Weg. Aber ich bin zuversichtlich, dass Syrien eine bessere Zukunft haben kann.
Hinweis zur Transparenz: Das Interview mit Bente Scheller wurde aus Zeitgründen schriftlich geführt.
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