US-PolizeigewaltDas tödliche Risiko, schwarz zu sein
Von Helene Laube, Oakland
20.4.2021
Ganz Amerika wartet angespannt auf das Urteil gegen den weissen Ex-Polizisten, der den unbewaffneten Schwarzen George Floyd getötet hat. Die meisten Schwarzen verfolgen den Prozess resigniert, denn sie wissen: Auch ein Schuldspruch wird an den Ungerechtigkeiten in ihrem Alltag nichts ändern.
Von Helene Laube, Oakland
20.04.2021, 00:00
20.04.2021, 08:17
Von Helene Laube, Oakland
Es ist wieder so weit in Oakland. Auf dem Broadway, der Hauptgeschäftsstrasse der Stadt an der San Francisco Bay, und in den Seitenstrassen des Stadtzentrums wird vor Schaufenstern, Geschäfts- und Gebäudefronten gesägt, gebohrt und gehämmert. Arbeitende montieren Bretter an Läden und Konzernsitzen, Restaurants und Bars, Eingängen zu Wohngebäuden und am Rathaus. «Die haben wir vor ein paar Monaten erst entfernt, aber wir rechnen mit neuen Protesten», sagt ein Arbeiter, der am Hauptsitz des Konsumgüterherstellers Clorox auf einer Leiter steht. «Es ist mühsam, aber ich verstehe die Proteste, so kann es nicht weitergehen.»
Mit «so» meint der Mann, der seinen Namen nicht nennen will, das seit Jahrzehnten anhaltende Problem der oft tödlichen Polizeigewalt gegen People of Color, insbesondere gegen Schwarze. Die Massenproteste, die vergangenen Mai nach George Floyds Tod unter dem Knie des weissen Polizisten Derek Chauvin in Minneapolis, dann in ganz Amerika und schliesslich der ganzen Welt starteten, waren im September wieder abgeklungen.
Jetzt, wo der Prozess gegen den mittlerweile entlassenen Polizisten vor dem Abschluss steht und am Montagnachmittag (Ortszeit) die Beratung der Geschworenen begonnen hat, bereitet sich Oakland auf neue Proteste vor. Wann und vor allem wie der Prozess ausgehen wird, weiss keiner. Die Jury könnte innerhalb einiger Minuten oder Stunden zu einstimmigen Urteilen in den drei Anklagepunkten kommen, sie könnte aber auch Tage oder Wochen brauchen. Kann sich die Jury nicht auf Urteile einigen, erklärt der Richter einen Fehlprozess.
Für viele, insbesondere schwarze Menschen in Oakland und im Rest Amerikas besteht nicht zuletzt wegen des immer wieder gezeigten, brutalen Videos der Tat kein Zweifel, dass Chauvin sich mindestens der rechtswidrigen Tötung an dem bäuchlings auf dem Asphalt liegenden Schwarzen in Handschellen schuldig gemacht hat. Genauso klar ist für viele: Ein Schuldspruch ist deswegen keinesfalls sicher. Selten werden weisse Polizist*innen, die Schwarze schikanieren, misshandeln oder töten, zur Rechenschaft gezogen oder angeklagt, noch seltener werden sie verurteilt.
«Die Sache scheint ziemlich klar zu sein, und ich glaube nicht, dass er freigesprochen wird», sagt Adi Taylor. «Aber das habe ich bei vielen dieser eklatanten Fälle von Polizeigewalt gegen Schwarze gedacht – und jedes Mal lag ich falsch.» Der Mitinhaber von vier angesagten Bars in Oakland sitzt vor seiner neu eröffneten Sand Bar in Uptown Oakland. Vorher war hier ein Autohändler, wie in so vielen Gebäuden an diesem Abschnitt des Broadway, der deswegen «Auto Row» heisst. Man kann am Tresen der Sand Bar bestellen, die Getränke müssen pandemiebedingt draussen im extra erbauten Parklet konsumiert werden.
Taylor nimmt einen Schluck seines Cocktails, lächelt resigniert und setzt die Maske wieder auf. «Eines steht fest: Kommt Chauvin ungestraft davon, werden die Leute zu Recht stinksauer sein und es wird zu Protesten kommen», prognostiziert er. Noch hat er nicht entschieden, ob er die Fenster der Sand Bar vernageln wird.
Als Geschäftsinhaber begeistert ihn die Aussicht auf eskalierende Proteste wenig, aber er versteht die Reaktion. Auch, weil er schwarz ist: «Ich bin auch völlig frustriert und entmutigt, dass heute noch täglich Schwarze von Polizisten drangsaliert und ermordet werden – am helllichten Tag, vor laufenden Kameras, im Beisein von anderen Polizisten, die nichts dagegen unternehmen, in Anwesenheit von Bürgern, die mehr oder weniger hilflos zuschauen müssen.»
Der gelassen wirkende 48-Jährige, der im benachbarten Berkeley aufgewachsen ist, erzählt vom Alltag als Schwarzer in Amerika. «Wenn ein Polizeiwagen hinter meinem Auto auftaucht, bin ich sofort angespannt, weil das Risiko, dass ich ausschliesslich aufgrund meiner Hautfarbe angehalten werde, die Polizisten mit gezogenen Waffen auf mein Auto zukommen und die Situation eskaliert, sehr hoch ist.» Dass ihm das noch nicht widerfahren ist, sei Glück, mehr nicht.
Polizei als Bedrohung
Er würde beispielsweise nicht die Polizei rufen, sollte in sein Haus eingebrochen werden, während er zu Hause ist. Die Gefahr sei zu gross, dass er als Schwarzer damit rechnen müsse, von den anrückenden Beamten aufgrund seiner Hautfarbe sofort als der Einbrecher und nicht der Hausbesitzer klassifiziert zu werden – mit möglicherweise schwerwiegenden Folgen. Es ist eines von vielen Beispielen des einseitig eingesetzten staatlichen Gewaltmonopols, von dem die meisten Weissen keine Ahnung haben, weil es sie kaum betrifft. Genauso wenig wissen sie, dass viele Schwarze in Amerika selbst im dringendsten Notfall nicht den Polizeinotruf verständigen würden, weil von der Polizei oft die grösste Gefahr für sie ausgeht.
Selbst ein Schuldspruch gegen Chauvin würde nichts an diesen vernichtenden Tatsachen ändern: Polizeigewalt und death by cop war und bleibt eine Realität im amerikanischen Alltag, insbesondere für dunkelhäutige Menschen. Allein seit Beginn der Zeugenaussagen im Prozess gegen Chauvin am 29. März haben Polizeibeamte in Amerika täglich mindestens drei Menschen getötet.
Polizeigewalt ist seit Jahrzehnten eine der häufigsten Todesursachen für schwarze Männer. Seit 2015 sind nach Zählung der «Washington Post» 1497 schwarze Menschen bei Polizeieinsätzen ums Leben gekommen (Stand 17. April 2021). Schwarze, deren Anteil an der US-Bevölkerung knapp 13 Prozent beträgt, machen 27 Prozent der von der Polizei Getöteten aus. Das entspricht 36 Toten auf eine Million Einwohner*innen. Die Zahl der getöteten Weissen beläuft sich auf 2884 – umgerechnet auf die Bevölkerungszahl sind das 15 Opfer je eine Million Einwohner*innen. Schwarze werden also mehr als zweimal so oft von Polizisten getötet wie Weisse. Sie werden zudem häufiger kontrolliert, festgenommen und für schuldig befunden – und dann auch vergleichsweise härter bestraft.
Knapp 24 Prozent der Bewohner Oaklands sind schwarz, ein deutlich höherer Anteil als die meisten Städte im Westen der USA – Tendenz infolge des Zustroms wohlhabender Angestellter der Technologiekonzerne aus dem nahen Silicon Valley, die die Mieten und Immobilienpreise in die Höhe treiben, allerdings sinkend. Die Stadt mit 435'000 Einwohner*innen war 1966 Gründungsort der Black Panther Party und ist nach wie vor ein Zentrum für schwarzen Aktivismus und schwarze Kunst.
Sie ist auch ein klassisches Beispiel für die in Amerika staatlich sanktionierte, geografische Diskriminierung. Während etwa in den grünen Hügeln von Oakland vorwiegend Weisse in ihren teuren Immobilien die Aussicht über die Bucht nach San Francisco geniessen, wurden die Schwarzen bereits ab den 1930ern in weniger begehrenswerte und gezielt benachteiligte Viertel im flachen Teil der Stadt gedrängt.
Noch heute unterscheiden sich die überwiegend von Schwarzen und Latinos bewohnten Stadtteile wie etwa die Viertel von East Oakland frappant von denen der Weissen: Sie sind ärmer, haben mehr Kriminalität und Umweltverschmutzung, schlechtere Schulen, verfügen über eine marode Infrastruktur, Lebensmittelgeschäfte sind selten, dafür sieht man an jeder Ecke Fast-Food-Filialen und Spirituosenläden. Schwarze werden in ihren Vierteln zudem mit einem längst militarisierten Polizeiapparat kontrolliert, der immer noch das verfassungswidrige Racial Profiling praktiziert.
Aber auch in den anderen Vierteln, insbesondere den vorwiegend von Nicht-Schwarzen bewohnten, heisst es aufpassen. «Wenn ich durch die Oakland Hills fahre oder spaziere, weiss ich, dass ich als Aussenseiter und Bedrohung wahrgenommen werde – von den Bewohnern und der Polizei», sagt ein Freund Taylors, der sich im Parklet dazugesetzt hat. «Egal, ob ich im Anzug und Porsche unterwegs bin. Das einzige was zählt, ist meine Hautfarbe.»
Kaum Rechenschaftspflicht für gewalttätige Polizisten
Es wäre naiv, einen Schuldspruch im Prozess gegen Derek Chauvin als Fortschritt in Sachen Gerechtigkeit oder Polizeireform zu werten, warnen denn auch die Aktivist*innen der «Black Lives Matter»- und anderer Bewegungen. «Wir sehen seit Jahrzehnten zu, wie schwarze Männer, Frauen und Kinder von der Polizei niedergeschossen werden, und es gibt für die beteiligten Polizeibeamten keine Rechenschaftspflicht – echte Gerechtigkeit wäre mit der Verurteilung von Derek Chauvin durch ein grundsätzlich ungerechtes System also nicht erreicht», sagt Zach Norris, Jurist und Geschäftsführer des Ella Baker Center for Human Rights. Die Organisation setzt sich für Gewaltprävention, Reform des Jugendstrafrechts, das selbst über Kinder drakonische Strafen und lebenslange Haft verhängt, und Verminderung von Polizeigewalt ein.
Die Büros befinden sich im Fruitvale-Quartier, nur ein paar Meter von der Haltestelle entfernt, wo in der Neujahrsnacht 2009 Oscar Grant von einem Polizisten des öffentlichen Verkehrsunternehmens BART erschossen wurde. Ein Beamter rammte dem unbewaffneten Grant ein Knie in den Kopf, warf ihn zu Boden und legte ihm Handschellen an, dann tötete ein zweiter Beamter den bäuchlings auf dem Perron liegenden 22-Jährigen mit einem Schuss in den Rücken.
Norris marschierte damals bei den Protesten gegen Grants Tötung mit. «Die Polizei verhindert Kriminalität nicht, genauso wie eine Verurteilung Chauvins die Polizei nicht daran hindern würde, weiterhin unbewaffnete Menschen zu töten», sagt der schwarze Aktivist. «Um unsere Communitys sicherer zu machen und das staatlich sanktionierte Töten von schwarzen Menschen zu beenden, müssen wir uns auf Lösungen für die Communitys konzentrieren, nicht das Strafsystem. Sich aus dieser Richtung Gerechtigkeit zu erhoffen, ist aussichtslos.»
Norris' Fokus ist eine fundamentale Verlagerung der Ressourcen, weg von der Polizei und hin zu Investitionen in betroffene Communitys, in Programme und Dienste, durch die seit Jahrhunderten bestehender Rassismus und Diskriminierung in Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Wohnraum, Umwelt, Kreditvergabe oder Arbeit bekämpft werden können. Überall in den USA beauftragen die Behörden die Polizei damit, auf Situationen zu reagieren, in denen es um problematischen Drogenkonsum, Obdachlosigkeit, psychische Gesundheitsprobleme und Armut geht, anstatt qualifizierte Dienste und Fachpersonal zu finanzieren, die in solchen Fällen eingesetzt werden können, kritisierte Human Rights Watch vergangenes Jahr.
Dutzende Organisationen arbeiten seit Langem an entsprechenden Reformen, und seit Georg Floyds Tod sind die Rufe nach einer völlig neu gedachten Polizeiarbeit noch lauter geworden. Unter dem Slogan «Defund the Police» fordern Aktivist*innen seit Jahrzehnten de facto die Auflösung einzelner Polizeibehörden, was vor allem in konservativen Kreisen auf enorme Ablehnung stösst. Deutlich mehr Organisationen streben aber eine massive Kürzung der Mittel an, die stattdessen in andere Lösungen und Dienste fliessen soll.
Mehr als 30 US-Teilstaaten haben seit jenem niederschmetternden Mai-Tag in Minneapolis mehr als 140 neue Gesetze für Polizeireform und -aufsicht verabschiedet. Die Gesetze reichen von eingeschränkter Gewaltanwendung über revidierte Disziplinarwesen hin zu mehr ziviler Aufsicht der Polizei und Transparenz bei Fällen mit Fehlverhalten.
Aber wie Norris beanstandet: Immer neue Fälle wie die Erschiessung des Schwarzen Daunte Wright unweit von Minneapolis vor wenigen Tagen oder des 13-jährigen Latinos Adam Toledo in Chicago oder der Fall des schwarzen uniformierten Militärleutnants Caron Nazario, der neulich von Polizisten in Virginia mit gezogener Waffe und unter Einsatz von Pfefferspray aus seinem Auto gezerrt und festgenommen wurde, stellen die Wirksamkeit dieser Neuerungen ernsthaft infrage.
Erneut Proteste nach weiteren Erschiessungen
Am vergangenen Freitagabend, ein Tag nach dem Treffen mit Sand-Bar-Besitzer Adi Taylor, protestierten Hunderte Demonstranten in Oakland gegen die Erschiessung von Wright und Toledo. Ein paar wenige Randalierer waren dabei. Einige Scheiben gingen zu Bruch, ein Auto und Trümmerhaufen wurden angezündet. Am Samstagmorgen hatte Taylor vorsorglich schon mal Sperrholzplatten an die Fenster der Bar gerückt. Montiert hatte er sie aber auch am Sonntag noch nicht.