Schweden und Finnland vor BeitrittDarum stellt sich die Türkei in der Nato mal wieder quer
Von Philipp Dahm
16.5.2022
Die Türkei legt Finnland und Schweden bei deren Nato-Beitritt Steine in den Weg. Dass Ankara wirklich ein Veto einlegt, ist indes nicht zu befürchten: Präsident Erdogans Alleingang hat fast schon Tradition.
Von Philipp Dahm
16.05.2022, 14:28
16.05.2022, 14:45
Philipp Dahm
Die Überschriften der internationalen Presse sprechen eine deutliche Sprache: «Sollte die Türkei die Nato verlassen?», «Die Türkei: Der Schurkenstaat der Nato», «Kann die Türkei ein verlässlicher Nato-Partner sein?», «Die Türkei zwischen der Nato und Russland: Die fehlende Balance», «Die türkische Krise mit dem Westen» und «Die türkische Aggression ist das ‹Wald vor lauter Bäumen nicht sehen› der Nato».
Das sind jedoch keine Titel, die wegen des aktuellen Ärgers um den Nato-Beitritt von Finnland und Schweden entstanden sind, sondern stammen von 2016, 2018, zweimal aus dem Jahr 2019 und zweimal aus dem Jahr 2020. Das zeigt: Die Beziehung zwischen Ankara und dem Rest des Nato-Bündnisses ist ziemlich volatil – und Streit gibt es in dieser Liaison immer wieder.
Die Gründe für die Beziehungskrisen sind vielfältig. Über allem steht die Dauerfehde zwischen Griechenland und der Türkei, die beide Mitglieder der Nato sind und ihren Zwist auf Zypern manifestieren. Unstimmigkeiten ergeben sich 1995, als Ankara auf ein schnelleres Eingreifen in Bosnien drängt, und 2007 und 2008, als die Türkei die Kosovo-Mission der EU ausbremst.
Ab 2011 gibt es Differenzen wegen des Arabischen Frühlings, der 2016 im Syrischen Bürgerkrieg mündet: Die türkischen Streitkräfte gehen gegen Kurden in Syrien und im Irak vor, mit denen die USA lange zusammengearbeitet haben. Auch in Libyen bricht ein Bürgerkrieg aus, bei dem die Türkei mitunter andere Positionen bezieht als die Nato-Partner.
Ankara selbst stellt sich nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 neu auf, verbessert die Beziehungen zu Russland und provoziert Washington, als es in Moskau das Luftabwehr-System S-400 kauft. Die Folge: Das Pentagon blockiert den Verkauf von F-35-Kampfflugzeugen an die Türkei. Eigentlich geht es mit der Nato und der Türkei vor allem abwärts, seitdem Recep Tayyip Erdogan im August 2014 Präsident geworden ist.
Ablenkung von der Innenpolitik: Inflation auf Rekordhoch
Doch das ist beileibe nicht die einzige Front, an der der 68-Jährige zu kämpfen hat: Die Inflation steigt im April auf 69,97 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das war der grösste Anstieg seit 2002. Im März hat die Inflation noch bei 61 Prozent gelegen. Experten machen Erdogans Wirtschaftspolitik für die dramatischen Preissteigerungen verantwortlich: Er senkte Zinssätze, um Wirtschaft und Exporte anzukurbeln, beharrt aber darauf, dass hohe Kreditkosten die Inflation anheizen.
Diese Haltung widerspricht dem etablierten wirtschaftlichen Denken. Die türkische Zentralbank senkte die Zinssätze seit September trotz hoher Inflationsraten um fünf Prozentpunkte auf 14 Prozent, bevor sie sie im Januar aussetzte. Die türkische Lira verlor im vergangenen Jahr 44 Prozent ihres Werts gegenüber dem Dollar.
Der Präsident versprach Ende April, die Inflation werde ab Mai zurückgehen. Ende des Jahres werde sie dann in eine «günstigere Richtung» steuern.
Der Krieg in der Ukraine beeinflusst die nationale Politik. Auf der einen Seite sind da die hohen Energiekosten, die etwa an der Tankstelle zur enormen hohen Inflation beitragen. Auf der anderen Seite ist die Krise ein Anlass für eine aussenpolitische Ablenkung von innenpolitischen Problemen.
Nordeuropas «Gasthäuser für Terrororganisationen»
So bringt sich Ankara immer wieder als Vermittlerin ins Gespräch – bei den anfänglichen Friedensverhandlungen der Kriegsparteien bis hin zur Evakuierung verletzter Ukrainer aus Mariupol. Die Botschaft nach innen: Erdogan ist auf internationalem Parkett eine gefragte nationale Grösse.
In diesem Kontext muss auch der neuerliche Vorstoss des Präsidenten in Sachen Nato-Beitritt von Stockholm und Helsinki gesehen werden. «Derzeit beobachten wir die Entwicklungen bezüglich Schwedens und Finnlands, aber wir haben keine positive Meinung dazu», lässt Erdogan am 13. Mai verlautbaren. Der Grund: Die beiden Staaten seien «Gasthäuser für Terrororganisationen», deren Mitglieder zum Teil gar im Staatsdienst stünden.
Die Nachricht wirft Wellen, denn immerhin muss eine Aufnahme von allen Mitgliedstaaten abgesegnet werden. Die Türkei macht diesen Schritt, um Druck auf Schweden und Finnland auszuüben, damit diese ihre Kurden-Politik ändern und die Gülen-Bewegung verfolgen, die Erdogan für den gescheiterten Putsch von 2016 verantwortlich macht.
Finnlands Präsident «ein bisschen irritiert»
Es folgen Gespräche auf Aussenminister-Ebene und ein Treffen der Nato-Aussenminister in Berlin, bei dem Mevlüt Cavusoglu schon wieder etwas versöhnlicher klingt. Er bekräftigte zwar die türkische Position, sprach aber auch von einer «Politik der offenen Tür»: «Ich bin mir sicher, dass wir für diese Sache eine Lösung finden werden.»
Ankara werde eine Aufnahme nicht blockieren, ist sich Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg nach Beendigung des Treffens sicher: «Deswegen bin ich zuversichtlich, dass wir auf die Einwände, die von der Türkei geäussert wurden, so eingehen können, dass sie den Beitrittsprozess nicht verzögern werden.»
Finnlands Präsident Sauli Niinisto ist wegen des Aufschreis in Ankara jedoch «ein bisschen irritiert»: Die PKK gilt in seinem Land als Terrororganisation, die Partei der syrischen Kurden YPG aber nicht. Die USA behandeln die Gruppen ebenfalls so wie Helsinki. In Schweden, das eine vitale kurdische Gemeinschaft beherbergt, sitzen sechs ethnische Kurden im Parlament.
«Guten Deal für die Türkei abschliessen»
Doch wenn die PKK auch in Nordeuropa bereits heute als Terrororganisation gilt, was will Erdogan also wirklich erreichen? Der türkische Präsident «hat schon vorher solche Taktiken eingesetzt», weiss der frühere US-Admiral James Foggo. «Er wird das als Hebel nutzen, um einen guten Deal für die Türkei abzuschliessen», zitiert ihn die «EurAsian Review».
Ein solches Geschäft wäre auf verschiedenen Ebenen denkbar. Zum Beispiel auf der diplomatischen: Die Aussenminister und Präsidenten aus Schweden und Finnland könnten etwa in die Türkei reisen. Erdogan könnte sich mit der Visite brüsten und seinen Wählern zeigen, welch wichtige Rolle er in Europa spielt.
Ein anderer Deal könnte im militärischen Bereich die Folge sein. Nach dem gescheiterten F-35-Kauf will Ankara gern die bestehende Flotte von F-16-Jets modernisieren. Auch hier könnte ein Entgegenkommen der USA helfen, den Streit beizulegen. Und überhaupt: Wenn Washington seinen Worten erst mal Gewicht verleiht, wäre es für die Türkei ohnehin sehr schwer, die Blockade aufrechtzuerhalten.
Insofern dürfte dieser Streit auch schon in naher Zukunft der Vergangenheit angehören. Denn in der Gegenwart braucht die Nato keinen internen Zank, sondern eine möglichst breite Front gegen Russland. Dass die kommt, ist so sicher wie das Amen in der Kirche – oder der Muezzin-Ruf vom Minarett.