Gefährlicher Brain Drain Daheim ohne Chancen: Junge Talente kehren Balkanländern den Rücken

on Dusan Stojanovic und Sabina Niksic, AP

24.2.2018

Hohe Arbeitslosigkeit, geringes Einkommen trotz guter Ausbildung, kaum Aufstiegschancen: Viele junge Leute auf dem Balkan blicken beruflich in eine düstere Zukunft. So suchen sie sich Jobs im Ausland - und ihre Heimatländer verlieren die Talente.

Die Serbin Marina Stevanov hat ihr Medizinstudium mit Topnoten abgeschlossen. Jetzt packt die 25-Jährige ihre Koffer, zieht mit ihrem Diplom und einem deutschen Wörterbuch nach Österreich. Dort hat ihr ein renommiertes Krankenhaus einen Job mit einer Fachausbildung in der Gefässchirurgie angeboten. Stevanov hat nicht vor, in absehbarer Zeit nach Serbien zurückzukehren.

Und sie ist kein Einzelfall. Angesichts verbreiteter Arbeitslosigkeit, niedriger Einkommen und geringer Chancen auf berufliches Vorankommen kehren Tausende von jungen und gut ausgebildeten Erwachsenen ihren heimischen Balkanländern den Rücken, um woanders eine Karriere zu verfolgen. Es zieht sie nach Westeuropa, in die USA oder auch in die ölreichen Staaten am Persischen Golf. Diese Abwanderung verschärft die ohnehin schon grossen Herausforderungen in ihren Heimatländern: Zurück bleiben die älteren und weniger gut ausgebildeten Menschen, das heisst, es entsteht ein zunehmendes Ungleichgewicht in der Bevölkerung.

So zählen gleich mehrere Balkanstaaten zu den Schlusslichtern auf einer Bewertungsliste des Weltwirtschaftsforums über die Fähigkeit einzelner Länder, Talente zu halten. Bosnien landet in der Aufstellung für 2017/2018 auf dem 135. Platz, Serbien auf dem 134. Rang, und Kroatien hat die Nummer 131.

«Du hast nicht genügend  Geld für ein normales Leben»

In Serbien ist die Zahl der Ärzte und Krankenpflegekräfte stetig zurückgegangen. Mittlerweile herrscht die Sorge, dass das Gesundheitssystem zusammenbrechen könnte. Junge Ärzte in öffentlichen Krankenhäusern verdienen durchschnittlich gerade mal 600 Euro im Monat - und das sind jene Mediziner, die das Glück haben, überhaupt einen bezahlten Job zu finden.

«Meine Kollegen, die hier (in Serbien) arbeiten, sind wirklich sehr aufgebracht, sie sind nicht zufrieden», sagt Stavanov in ihrer kleinen Wohnung in Belgrad inmitten gepackter Koffer und Kisten. «Du hast nicht genügend Zeit oder Geld für deine Familie und für ein normales Leben. Das ist ein grosses Problem.»

Insgesamt sind in Serbien etwa 50 000 Universitätsabsolventen arbeitslos, darunter Ingenieure und IT-Experten. Haben 2007 etwa 27 000 gut gebildete Einwohner das Land verlassen, lag diese Zahl 2014 - dem bisher letzten Jahr mit verfügbaren offiziellen Statistiken - bei 58 000. Und sicherlich gibt es eine hohe Dunkelziffer, denn die meisten Auswanderer melden sich nicht bei den Behörden ab.

Trotz dieser Zuspitzung hat das Land bis auf gelegentliche Appelle an den Patriotismus wenig getan, um das Ausbluten zu stoppen. «Ich bitte Sie, in unserem schönen Serbien zu bleiben», beschwor Präsident Aleksandar Vucic kürzlich Topstudenten, die Stipendien erhalten haben.

Im benachbarten Kroatien lag die Jugendarbeitslosenquote in den vergangenen zehn Jahren durchschnittlich bei 35 Prozent. Aber junge Leute haben seit dem EU-Beitritt des Landes 2013 mehr Optionen, da sich Einwohner in anderen Ländern der Gemeinschaft um Jobs bewerben können, ohne Visa oder Arbeitsgenehmigungen zu benötigen.

Schon Zehntausende sind gegangen

So haben nach Regierungsstatistiken seit 2013 jedes Jahr etwa 40'000 Kroaten ihre Heimat verlassen, aber auch in diesem Fall dürfte die wirkliche Zahl weitaus höher liegen - mindestens doppelt so hoch, wie etwa Bevölkerungsforscher Stjepan Sterc von der Universität Zagreb schätzt. «Etwas muss getan werden, um dieses Ausbluten Kroatiens zu stoppen», sagt der Professor. «Es liegt im strategischen Interesse des Landes.»

Bosnien, in den 90ern Schauplatz eines blutigen Bürgerkrieges, hat der Weltbank zufolge sogar eine Jugendarbeitslosenrate um die 54 Prozent. Diese Statistik erfasst Menschen im Alter bis zu 24 Jahren. Bosniens Arbeitsministerium versucht, Jobsuchende durch bilaterale Vereinbarungen in anderen Ländern zu platzieren. Deutschland etwa hat Interesse an Arbeitnehmern mit mittlerer Ausbildung im Gesundheitsbereich und Slowenien Bedarf an Arbeitern in Berufen, die geringere Fähigkeiten erfordern, hauptsächlich Schweisser oder Fahrer.

So hat das Ministerium in den vergangenen fünf Jahren Arbeitsplätze für fast 3500 Bosnier in Deutschland und 20 000 in Slowenien gefunden. Aber es hilft nicht, Ärzten oder anderen akademischen Fachkräften, an denen es im eigenen Staat mangelt, Jobs im Ausland zu vermitteln. Angebote liessen sich in jedem Land im Internet finden, sagt Sprecher Boris Pupic. Ausserdem gebe es private Agenturen, die helfen könnten.

«Ich würde niemals zurückkehren»

Eine davon ist das Alphabet InfoCenter in Tuzla, das auch Deutsch- oder Englischunterricht organisiert und Dolmetscher zur Verfügung stellt, die Jobsuchende beim Ausfüllen nötiger Anträge unterstützen. Der Leiter des Zentrums, Mersudin Mahmutbegovic, beklagt, dass die Regierung in Bosnien nichts tue, um Fachkräfte mit höherer Ausbildung zu halten. «Sie beschweren sich, dass niemand übrig bleiben wird, der beispielsweise in Bosnien Patienten betreut», sagt er. «Aber es fällt ihnen niemals ein, dass sie etwas unternehmen müssen, um Leute zum Bleiben zu ermutigen.»

Leute wie die Nadina Redzic, die vor fünf Jahren ihr Jurastudium abgeschlossen und sich anschliessend in ganz Bosnien um eine Stelle beworben hat. Sie erhielt fast keine Antworten und glaubt wie viele andere auch, dass das alles von vornherein aussichtslos war, gute Verbindungen bei der Jobvergabe mehr zählen als ein gutes Ausbildungszeugnis. Völlig entmutigt entschied sich Redzic zu einer neuen Ausbildung als Krankenpflegerin, um sich dann Arbeit in Deutschland zu suchen.

Wenn sie dort einmal angekommen ist, will sie auf Dauer bleiben. «Ich würde niemals zurückkehren, es sei denn, zu einem Kurzbesuch bei meiner Familie», sagt die 28-Jährige. «Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die meine harte Arbeit und Mühen anerkennt.»

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