Ende der Null-Covid-StrategieChina wagt «riesiges Sozialexperiment»
uri
9.12.2022
Welle in China erwartet: Grosse Mehrheit wird sich anstecken
Die grosse Mehrheit der 1,4 Milliarden Chinesen wird sich nach Einschätzung eines führenden chinesischen Experten letztlich mit dem Coronavirus infizieren.
09.12.2022
In einer spektakulären Wende hat Peking nach Protesten kurzerhand seine Zero-Covid-Politik beendet. Das sorgt einerseits für Freude in der lange gegängelten Bevölkerung. Es werden aber auch Sorgen laut.
uri
09.12.2022, 20:01
uri
Plötzlich ging es ganz schnell. Nach drei Jahren der Zero-Covid-Politik hat China am Donnerstag mit der Umsetzung der Lockerungen begonnen: Arbeiter bauten im ganzen Land Hinweisschilder ab, die auf die bislang unvermeidlichen Kontrollpunkte hinwiesen, berichtet der US-Nachrichtsender CNN.
Neben der Freude über die neu gewonnen Freiheiten wachsen bei vielen Chinesen aber auch die Sorgen, was nun auf sie zukommt: «Wie kann sich das so schnell ändern?», erklärte ein Manager aus Peking. In sozialen Netzwerken des Landes riefen Nutzer*innen zu Vosichtsmassnahmen gegen Corona auf und kündigten an, sich mit Medikamenten einzudecken.
Erst am Mittwoch hatten Chinas Gesundheitsbehörden die spektakuläre Kehrtwende mit weitreichenden Erleichterungen bei Lockdowns, Quarantäneregeln, Testpflicht und Reisen angekündigt. Nun wird es für Infizierte ohne Symptome oder mit leichten Krankheitsverläufen grundsätzlich möglich, die Isolation zu Hause zu absolvieren. Ebenfalls droht auch Kontaktpersonen kein Quarantäne-Lager mehr.
China lockert landesweit Corona-Beschränkungen
Nach regierungskritischen Protesten rückt China von seiner strikten Null-Covid-Politik ab. Die Volksrepublik erlaube künftig bei milden Corona-Fällen, sich zu Hause zu isolieren und zu behandeln, teilte die Nationale Gesundheitskommission am Mittwoch mit.
09.12.2022
Mit den Lockerungen ist Peking vor den grössten Protesten im Land seit dem Frühling 1989 eingeknickt. In mehreren Städten des Landes hatten Demonstrierende seit Wochen ein Ende der drakonischen Corona-Massnahmen gefordert. Die Proteste gipfelten in weitergehenden Forderungen nach Demokratie und Medienfreiheit. Protestierende skandierten zudem «Nieder mit der Partei» und «Nieder mit Xi Jinping».
«Die meisten von uns werden sich einmal infizieren»
Peking lässt offensichtlich Dampf aus dem Kessel und führt dafür wissenschaftliche Gründe an – etwa, dass man sich die Lockerungen erlauben könne, weil sich das Virus verändert habe. Zugleich kann die Regierung aber nicht verbergen, dass ihre bisherige Corona-Strategie gescheitert ist. Mit dem abruptem Schwenk geht Staatschef Xi Jinping, der bislang persönlich auf die Zero-Covid-Politik bestanden haben soll, gleich mehrere Risiken ein.
Obwohl China am Mittwoch lediglich 21'000 Neuinfektionen meldete und damit erneut weniger als am Vortag, ist nämlich weitgehend unklar, ob das eine positive Tendenz bedeutet oder ob einfach nur weniger Menschen getestet wurden. Experten befürchten zudem, dass nun eine beispiellose Corona-Welle auf eine Bevölkerung zukommt, die noch ungenügend mit dem Coronavirurs in Kontakt kam – sei es durch Ansteckung oder Impfung.
Corona: China meldet erneut sinkende Fallzahlen
Die chinesischen Behörden hatten am Mittwoch umfassende Änderungen an den bislang extrem strengen Corona-Beschränkungen angekündigt.
08.12.2022
Laut dem Regierungsberater Feng Zijian werde sich ab jetzt die grosse Mehrheit der 1,4 Milliarden Chinesen infizieren, am Ende 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung, berichteten chinesiche Staatsmedien am Donnerstag. «Egal, wie die Massnahmen angepasst werden, die meisten von uns werden sich einmal infizieren», so Zijan.
Schlimmstenfalls bis zu eine Million Tote
Nach Modellrechnungen dürften es bereits in einer ersten Welle rund 60 Prozent der Chines*innen erwischen. Es müssten «angemessene Massnahmen» ergriffen werden, um den Höhepunkt dieser Welle niedrig zu halten und die Belastung des Gesundheitswesens zu verringern, sagte Zijan bei einem Onlineforum der Pekinger Tsinghua-Universität. Schon heute erleben nach dem jüngsten Ausbruch in Peking Spitäler einen starken Zulauf von Infizierten und Personalmangel.
Das Land habe sich offenbar nicht auf den Öffnungsschritt vorbereitet, sagte Rodney Jones von Wigram der «Financial Times». Der Schritt Xi Jinpings sei eher spontan auf die Proteste erfolgt und nicht «Teil eines sorgfältigen politischen Programms».
Nährboden für eine neue Variante
Westliche Gesundheitsexperten sehen in China zudem ein Problem erwachsen, das auch hierzulande bald wieder für Kopfschmerzen sorgen könnte: Mit Zunahme der Infektionen im riesigen Land gedeiht hier der ideale Nährboden für neue Mutationen.
«Gross angelegte Masseninfektionen, auch wenn sie keine schweren Krankheiten nach sich ziehen, sind ein Hexenkessel für die Virusevolution», erklärte der britische Mikrobiologe Simon Clarke bereits vor den Lockerungen angesichts der steigenden Infektionszahlen der «Daily Mail».
Ähnlich äusserte sich auch der deutsche Virologe Christian Drosten. Damit das Virus nochmals richtig gefährlich werde, müsse sich eine neue Variante aus seinem frühen Stammbaum bilden. Dafür brauche es aber «eine Art Revolution, durch erneute massive Verbreitung irgendwo auf der Welt, wo das jetzt noch möglich ist», sagte Drosten im Interview mit der «Zeit».
Am wahrscheinlichsten sei eine solche Situation derzeit in China, gab sich der Virologe überzeugt. Hier sei die Immunität weniger homogen verteilt als in Industrieländern, wo das bereits durch Impfung oder Ansteckung geschehen sei – oder auch in ärmeren Ländern, wo die meisten Menschen schon mehrfache Infektionen durchgemacht hätten.
Bevölkerung wird allein gelassen
Der plötzliche Öffnungsschritt ist aber auch in sozio-politischer Hinsicht ein gewagter Entscheid, der nicht zuletzt für die Regierung von Xi Jinping zum Bumerang werden könnte, findet die Politikwissenschaftlerin Nadine Godehardt.
«Das Aufheben der strengen Politik ist keine Lösung für das Land», sagte Godehardt der ARD-Tagesschau. Womöglich sei eine entsprechende Reaktion bereits geplant gewesen, dann aber sicher in kleineren Schritten. Jetzt wirke das Vorgehen «beinahe überhastet» und auch sei nicht klar, wie die weitere Strategie aussehe.
Mit der Lockerung der Massnahmen würden zwar einige Regeln aufgehoben, allerdings würde sie auch bedeuten, dass die chinesische Bevölkerung nun im Umgang mit der Pandemie sich selbst überlassen werde.
Godehardt, die für den Berliner Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) arbeitet, der die deutsche Regierung berät, sagt, die Proteste in China seien aussergewöhnlich gewesen. Sie hätten die Regierung dazu bewegt, «schnell zu reagieren und Massnahmen zu ergreifen».
«Riesiges soziales Experiment»
Angesichts des zu befürchtenden massiven Anstiegs der Infektionszahlen handle es sich um ein «riesiges Sozialexperiment», bei dem die Führung hoffe, «irgendwie mit einem blauen Auge davonzukommen».
Nicht zuletzt hätten die Proteste auch gezeigt, dass es eine chinesische Gesellschaft gebe, die sich mit dem System auseinandersetze. Godehardt glaubt indes nicht, dass es dabei wirklich um einen Regimewechsel gehe. Eher handle es sich um einen «Ausdruck der Frustration über die massiven Einschränkungen» des gewohnten Alltags der Chinesen.
Offenbar hat diese Frustration aber immerhin so viel Eindruck auf Peking gemacht, dass das Regime nun Aktivismus zeigt – ohne einen weiteren Plan zu haben. Auch das war man von den Machthabern in Peking bislang nicht gewohnt.