Grossbritannien Boris Johnson hat viele Probleme — und wenige politische Freunde

AP/toko

31.10.2020

Kritiker werfen der Regierung von Boris Johnson unter anderem vor, zu lange mit einem Lockdown gezögert und die Beschränkungen zu früh gelockert zu haben.
Kritiker werfen der Regierung von Boris Johnson unter anderem vor, zu lange mit einem Lockdown gezögert und die Beschränkungen zu früh gelockert zu haben.
Eddie Mulholland/TELEGRAPH POOL/AP/dpa (Archivbild)

Boris Johnsons Erdrutschsieg liegt gerade mal zehn Monate zurück. In dieser kurzen Zeit haben sich für den britischen Premier die Herausforderungen aufgetürmt. Und neue Freunde hat er anscheinend auch nicht gefunden — im Gegenteil.

Alle Politiker haben irgendwelche Probleme und Widersacher. Aber wohl kaum so viele wie Boris Johnson. Eine dramatische neue Corona-Welle, die Europäische Union, eine wiederauflebende Opposition, zornige englische Bürgermeister und ein beliebter Fussballstar, der Essen für arme Kinder will: Die Liste der Herausforderungen für den britische Premierminister ist wirklich bemerkenswert. Sogar ehemals loyale Parlamentarier werden aufmüpfig.

Das alles weniger als ein Jahr nach seinem Erdrutschsieg bei der Wahl. «Die Johnson-Regierung hat es in den vergangenen zehn Monaten spektakulär geschafft, Eigentore zu schiessen und Streit mit Leuten zu suchen, der wirklich unnötig war», sagt Victoria Honeyman, ausserordentliche Professorin für britische Politik an der University of Leeds.

Es ist in der Tat ein starker Kontrast zum Dezember 2019, als Johnson mit kühnen und simplen Wahlversprechen eine deutliche Mehrheit im Unterhaus gewann. Er werde «den Brexit fertigkriegen», nach Jahren der Unsicherheit über den EU-Ausstieg, sagte er damals. Und er werde das Land «auf ein höheres Niveau bringen», Reichtum neu verteilen und vernachlässigten Regionen in Nordengland neue Chancen bescheren.

Die Pandemie hat diesen Plänen den Garaus gemacht, Grossbritannien bislang mehr als 45'000 Corona-Tote verzeichnet, die höchste Zahl in einem europäischen Land. Johnson selbst infizierte sich, musste im April eine Woche ins Krankenhaus.



Streit mit Bürgermeistern

Kritiker werfen der Regierung unter anderem vor, zu lange mit einem Lockdown gezögert und die Beschränkungen zu früh gelockert zu haben. Auf den neuen Anstieg der Zahl von Neuinfektionen und Todesfällen hat die Regierung mit einem Dreistufen-System örtlicher Restriktionen in England geantwortet. Die härtesten Massnahmen mit Schliessungen von Pubs und Beschränkungen für viele andere Unternehmen haben den ohnehin schon wirtschaftlich stark gebeutelten Norden getroffen.

Das hat die Bürgermeister von Manchester und Liverpool aufgebracht: Sie werfen Johnson vor, ihre Städte ohne vorherige Konsultationen und eine finanzielle Abfederung lahmgelegt zu haben.

Boris Johnson steht politisch alles andere als gut  da.
Boris Johnson steht politisch alles andere als gut  da.
KEYSTONE/AP/Kirsty Wigglesworth

Labour erstarkt

Der Nord-Süd-Graben hat der oppositionellen Labour-Party neue Energie verliehen und konservative Parlamentarier alarmiert, deren Sitze Labour innehatte, bevor die Tories sie im vergangenen Jahr eroberten — weitgehend als Ergebnis von Johnsons Versprechen, den Norden zu beleben. Nördliche Tories haben sich kürzlich zu einer Gruppe zusammengeschlossen, der Northern Research Group, um Druck auf die Regierung auszuüben. Sie fordern einen Fahrplan für den Ausstieg aus Corona-Restriktionen und ein Jobprogramm für den Norden.

Und wären das nicht schon genügend Herausforderungen, hat sich Johnson auch noch mit Marcus Rashford angelegt, dem 22-jährigen Star von Manchester United. Der Fussballer leitet eine Kampagne zur Versorgung von bedürftigen Kindern mit Schulessen auch während der Ferien. Seine Initiative hat bei Firmen, Wohltätigkeitseinrichtungen und örtlichen Behörden Widerhall gefunden, sie alle haben Essen angeboten. Aber die Regierung hat sich geweigert, Schulmahlzeiten während derzeitiger Ferien zur Schuljahreshalbzeit sowie über Weihnachten und Neujahr zu finanzieren.

Diese Unnachgiebigkeit hat viele Beobachter perplex gemacht, und sogar ansonsten loyale Parlamentarier sagen, dass Johnsons Regierung sich der Anliegen annehmen müsse, die Millionen Menschen am Herzen lägen.

Johnson zwischen  zwei Stühlen

Er habe zwar Mitgefühl mit der Regierung, so der Konservative Robert Halfon, der Rashfords Kampagne unterstützt. Man befinde sich in einem nationalen Notstand, und verständlicherweise drehe sich alles um die Wirtschaft und Gesundheitsversorgung. «Aber natürlich werden wir uns um soziale Fragen wie diese und die Mühseligkeiten, mit denen Menschen konfrontiert sind, und die Lebenshaltungskosten kümmern müssen, wenn wir da herauskommen», sagte Halfon der Nachrichtenagentur AP.

Anhänger verteidigen Johnson mit dem Argument, dass es eine enorme Herausforderung für ihn sei, einen Weg zwischen «der Scylla eines neuen nationalen Lockdown und der Charybdis eines unkontrollierten Virus» zu finden — wie er es selbst mit Bezug auf Seeungeheuer in der griechischen Mythologie formuliert. Johnson sitzt sozusagen zwischen zwei Stühlen: wissenschaftlichen Beratern, die für härtere Beschränkungen plädieren, und vielen Konservativen, die warnen, dass Restriktionen die Wirtschaft erstickten und individuelle Freiheiten verletzten.

Langer Corona-Winter steht  vor der Tür

Vorwürfe, dass sie mit ihren finanziellen Coronahilfen knauserig sei, weist die Regierung mit dem Hinweis auf geleistete Milliardenzahlungen für Unternehmen, Joblose und in unbezahlten Urlaub geschickte Arbeitnehmer zurück. Aber Kritiker lasten Johnson an, dass seine Pläne wenig detailliert seien, er sich zu stark auf eine kleine Gruppe von Beratern stütze und mit dem Feuern von Kritikern an seinem Brexit-Kurs das Angebot an politischen Talenten in der Regierung ausgedünnt habe.

Eine Entspannung scheint nicht in Sicht. Ein langer Winter von Corona-Beschränkungen steht vor der Tür, und am 1. Januar verlässt die Insel als letzte Brexit-Phase den EU-Binnenmarkt und die Zollunion. Es ist unklar, ob es zu einem Handelsabkommen mit der EU kommt, die Grossbritannien abfedern könnte.

Und die US-Wahlen am 3. November könnten mehr Kopfschmerzen bringen. Ein Sieg des Demokraten Joe Biden würde eine Washingtoner Regierung bedeuten, die Johnsons populistischer Instinkte überdrüssig ist und keine Eile hat, eine — von Grossbritannien angestrebte — bilaterale Freihandelsvereinbarung zu treffen.

So kann es sich Honeyman, die Uniprofessorin, derzeit schwer vorstellen, wie die Konservativen mit Johnson als Regierungschef durch die nächsten vier Jahre — bis zur nächsten Wahl — kommen werden. «Es ist aussergewöhnlich», sagt sie. «Es sind zehn Monate seit der Wahl, und sie sind auf ihren Knien.»

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