Plötzlich wird der Oberst persönlich«An dieser Stelle schlägt die Freundschaft die Neutralität»
Von Philipp Dahm
11.7.2022
Wie könnte sich der Krieg in der Ukraine nach dem Fall von Luhansk weiterentwickeln? Im neuesten Video der Theresianischen Militärakademie in Wien analysiert ein Oberst die Lage – und überrascht mit Persönlichem.
Von Philipp Dahm
11.07.2022, 13:36
11.07.2022, 15:03
Philipp Dahm
In regelmässigen Abständen analysiert die Theresianische Militärakademie in Wien auf Youtube das Lagebild in der Ukraine – und das mit durchschlagendem Erfolg.
Obwohl der Kanal des Österreichischen Bundesheeres nur 157'000 Abonnementen hat, erreichen die deutschsprachigen Videos in der Regel rund 750'000 Zuschauende. Zuletzt sind englischsprachige Versionen dazugekommen, die noch mehr Reichweite haben: «The Battle for Donbass» haben seit Erscheinen vor einem Monat 1,7 Millionen geschaut.
Die Clips werden stets von Dr. Markus Reisner präsentiert. Der Oberst des Generalstabs führt in seiner Rolle als Leiter der Entwicklungsabteilung der Militärakademie durch die Analysen. Zuerst wird der Fokus aufgezogen: Der Krieg in der Ukraine spielte sich zuletzt an den Fronten Charkiw, Donbass und Cherson ab, leitet der Oberst ein.
Was ist im Donbass zwischen April und Juli passiert? Moskau hat seine Truppen aus Kiew abgezogen, neu formiert und im Oblast Luhansk massiv eingesetzt – inklusive neuer Taktik, die gekennzeichnet ist «durch massive Artillerieschläge und ein langsames Vormarschieren». Der Vergleich auf der Karte zeigt, dass der Geländegewinn der Angreifer in Sjewjerodonezk und Lyssytschansk in drei Monaten eher übersichtlich ist.
Russland habe die Stellungen der Verteidiger erst einen Monat mit Artillerie beschossen, bevor sie am 5. und 6. Mai von Popasna aus einen Vorstoss machen konnten. Aus dieser Position heraus waren die Streitkräfte in der Lage, in den Rücken der Verteidiger von Sjewjerodonezk und Lyssytschansk vorzurücken und die Strasse T1302 zu bedrohen, die die beiden Städte an den Westen des Landes anbindet.
Russen gelingt Querung des Siwerskyj Donezk
Der Kreml habe den Kessel anfangs bewusst nicht geschlossen, glaubt Reisner. Der Grund: Moskau wollte demnach, dass die Verteidiger weiter Kräfte und Gerät in den Kessel einbringen, um sie dort zu bekämpfen – westliche Waffen inklusive. Aus dieser Zeit stammten auch Videos, die die Zerstörung amerikanischer M777-Geschütze zeigen.
Ende Juni sei es dann gelungen, was zuvor mehrfach erfolglos unternommen worden war: im Norden eine Brücke über den Siwerskyj Donezk zu schlagen und die Ukrainer von zwei Seiten in die Mangel zu nehmen. Die Verteidiger hätten sich daraufhin aus dem Kessel absetzen müssen, erklärt der Oberst: Schweres Gerät hätten sie dabei zurücklassen müssen. Am 3. Juli sei Lyssytschansk schliesslich eingenommen worden.
Dieser Kessel habe nur kleine Ausmasse gehabt – circa 40 mal 40 Kilometer, sagt Reisner. Nach Westen bis zum Dnjepr sei das Gelände aber deutlich tiefer. Die Ukrainer hätten zwei Verteidigungslinien errichtet, um den weiteren Vorstoss in den Donbass zu bremsen. Die erste Linie gehe von Siwersk nach Bachmut. Die zweite reiche von Slowjansk und Kramatrosk und Kostjantyniwka bis Torezk.
«Frontaler Ansatz» oder Zangenbewegung im Hinterland?
Die Frage sei nun, wie viele Ukrainer aus dem Kessel abgezogen werden und wie viel Verstärkung sie in die Tiefe führen konnten. Sollte die russische Armee hier auf wenig Widerstand treffen, werde der Vorstoss nach Westen weiter fortgesetzt, prophezeit der Österreicher. Nur wo und wie, darüber könne man spekulieren.
Eine Möglichkeit sei der «frontale Ansatz», bei dem die Angreifer zwischen die oben angesprochenen Linien ziehen. Es gebe aber auch Berichte über Truppen-Massierungen im Norden des Donbass, was für einen Vorstoss hinter die zweite Verteidigungslinie sprechen würde, um beide Linien zu hinterlaufen. «Der bringt [für die Russen] natürlich das Problem der offenen Flanken mit sich», verweist Reisner auf das Risiko eines solchen Zuges.
Essenziell für die kommenden Wochen seien weiterhin die Kräfteverhältnisse, führt der Militär aus. Das schlage zugunsten der Russen aus: Vor zwei Wochen noch hätten ungefähr 81 Bataillone der Ukraine 93 Bataillonen des Gegners gegenübergestanden. Nun sehe es so aus, dass 60 ukrainische Bataillone 108 russische Bataillonen aufhalten müssten. Kiews Truppen hätten sich abgenützt, während Moskau Soldaten nachgeführt habe.
«Natürlich muss man berücksichtigen, dass beide Seiten Verluste erlitten haben und dass diese Bataillonsäquivalente nicht die volle Stärke haben», schränkt der Experte ein. Der Trend steht aber fest – und die Verteidiger sind umso mehr auf Waffen aus dem Westen angewiesen.
Aus Polen und Tschechien kämen rund 200 T-72-Kampfpanzer, die mittlerweile an der Front seien. Interessanter sei der Einsatz von Artillerie: «Hier wurden zwar nur wenige Systeme geliefert, aber man erkennt, dass vor allem der Einsatz des Systems Himars, aber auch von der polnischen Krab und der deutschen Panzerhaubitze 2000 sehr wohl einen Effekt erzielen.»
Die Panzerhaubitze 2000 verschiesse «endphasengesteuerte Munition», erklärt Reisner: Das könne zu «spektakulären Erfolgen beitragen». Das System Himars sei offensichtlich bereits gegen russische Munitionsdepots eingesetzt worden. Die eingesetzten Raketen hätten eine Reichweite von 80 Kilometern.
Hohe Abnutzung auf ukrainischer Seite
Auch zum Aspekt der Abnutzung der Truppen liefert Reisner interessante Informationen: Er verweist auf ein Interview mit dem ukrainischen Brigadegeneral Wolodymyr Karpenko, der relativ offen über die eigenen Verluste spricht. Demnach hätten die Verteidiger die Hälfte ihrer Kräfte verloren. 1300 Schützenpanzer, 400 Panzer und 700 Artillerie-Systeme seien bereits zerstört worden.
Noch schwerwiegender sei die «strategische Abnutzung» durch die permanenten Raketenangriffe. Zwischen dem 24. Februar und dem 9. Juni seien bereits 2600 Raketen auf die Ukraine abgefeuert worden. «Solange die Ukraine effektiv keine Flugabwehr hat, kann sie sich gegen diese Angriffe nicht wehren», verdeutlicht Reisner.
Der Winter werde die Lage der Verteidiger weiter verschlechtern, befürchtet der Österreicher. Der Grund: Die Gebiete, die Russland mittlerweile besetzt hat, sind für einen grossen Teil der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion verantwortlich. Das werde es Kiew erschweren, die Bürger*innen mit Nahrung, Energie und Produkten des täglichen Bedarfs zu versorgen.
Persönliche Worte
Am Ende seines Vortrags wird Markus Reisner dann persönlich – und emotional. «Unsere Präsentationen sind so objektiv wie möglich», sagt er. «Eine objektive Bewertung ist die Grundlage jedes klaren Lagebildes. Heute möchte ich eine Ausnahme machen.»
Er habe 2021 die «Ehre» gehabt, das österreichische Kontingent im Kosovo als Kommandant führen zu dürfen. In diesem Rahmen habe er auch KFOR-Truppe der Joint Logistic Support Group befehligt, zu der auch 50 Ukrainer gehörten, von denen drei Offiziere gewesen seien.
«Einer dieser drei Offiziere, ein guter Kamerad und Freund, Kyrylo Hubanov, ist im Alter von 26 Jahren am 10. Juni in der Schlacht vom Donbass gefallen», sagt Reisner mit belegter Stimme. «An dieser Stelle schlägt die Freundschaft die Neutralität, und es ist mir ein persönliches Anliegen, seiner Person zu gedenken und ihm zu Ehren dieses Bild zu zeigen.»