Wiener Militärakademie erklärt Kiew bremst Putins Offensive mit einer Sowjet-Taktik aus

Von Philipp Dahm

11.5.2022

Ukrainische Truppen erobern Ortschaften nahe Charkiw zurück

Ukrainische Truppen erobern Ortschaften nahe Charkiw zurück

Die Gegenoffensive könnte Russland empfindlich treffen, wenn ukrainische Streitkräfte in Schlagdistanz zu russischen Nachschublinien rücken.

11.05.2022

Die russische Offensive im Donbass wird ausgerechnet mit einem Taktik ausgehebelt, mit der die Rote Armee 1943 die Schlacht von Kursk gewonnen hat. Es droht – wie im Erstem Weltkrieg – ein Grabenkampf.

Von Philipp Dahm

Wenn es um Militärhilfen für die Ukraine geht, steht ein EU-Land ganz hinten an: Österreich beschränkt sich wegen seiner Neutralität auf die Lieferung von Ausrüstung wie Schutzwesten oder Helmen. Dennoch beobachtet natürlich auch das Bundesheer die Lage an der Front – und die Experten der altehrwürdigen Theresianischen Militärakademie in Wien geben ihre Erkenntnisse regelmässig via Youtube weiter.

Wie populär diese Videos sind, zeigt die jüngste Analyse zur «Schlacht um den Donbass»: Obwohl der Kanal nur knapp 76'000 Abonnenten zählt, ist dieser Clip innert vier Tagen rund 621'000 angesehen worden. Markus Reisner stellt darin zwei interessante Thesen auf, die wir an dieser Stelle näher beleuchten.

Der österreichische Oberst fasst zusammen, wie Moskau seine Kiew-Offensive angebrochen hat, um Anfang April «50'000 bis 60'000 Soldaten, die bereits durch die Kämpfe in den Vororten von Kiew geschwächt waren, über 1000 Kilometer [vom Norden der Ukraine] mit der Eisenbahn in den Osten der Ukraine zu verlegen».

Die grosse Umklammerung wäre dem Fluss Dnepr gefolgt. Moskau entschied sich für die kleine Einkreisung, erklärt Oberst Markus Reisner.
Die grosse Umklammerung wäre dem Fluss Dnepr gefolgt. Moskau entschied sich für die kleine Einkreisung, erklärt Oberst Markus Reisner.
Screenshot: YouTube/ÖsterreichsBundesheer

Seit Mitte April laufe die zweite Phase der Entscheidung, in der russische Kräfte erfolglos versucht hätten, den Feind einzukesseln. «Es gab hier zwei Optionen: eine Umfassung in der Tiefe, angelehnt an den Dnepr, und eine kurze Umfassung.» Der Kreml habe sich für die letztere Variante entschieden, so Reisner.

Gelände, Mannschaftsstärken und der Faktor Zeit

Weil dieses Vorhaben der russischen Armee gescheitert sei, befinde man sich nun in einer Phase der Konsolidierung. Trotz erster Erfolge bei der Stossrichtung der Einkreisung seien die Angreifer am ukrainischen Widerstand gescheitert. «Es ist nicht so, dass die russischen Kräfte rasch Geländegewinne machen können, um in die Tiefe vorzustossen», sagt der Oberst.

Die Verteidiger hätten mehrere Abwehrlinien errichtet: Man gehe davon aus, dass es alleine im Kessel derer drei gebe. Wälder und Flüsse im Gelände würden den Vormarsch der Russen erschweren. Ausserdem stünden aufseiten der Verteidiger 27 Brigaden bereit, was 81 Bataillonen entspreche. Moskau greift demnach mit 93 Bataillonen an. Im Kessel stünden 48 ukrainische Bataillone 68 russischen gegenüber.

Oberst Reisner erklärt mit einer Karte von Istjum in der Region Charkiw anschaulich, welche Rolle Gelände spielt: Im Osten und Westen erschweren Wälder einen Vormarsch, und auch der Fluss ist ein Hindernis. Erst mit Ponton-Brücken konnte der Flaschenhals überwunden werden.
Oberst Reisner erklärt mit einer Karte von Istjum in der Region Charkiw anschaulich, welche Rolle Gelände spielt: Im Osten und Westen erschweren Wälder einen Vormarsch, und auch der Fluss ist ein Hindernis. Erst mit Ponton-Brücken konnte der Flaschenhals überwunden werden.
Bild: Google Earth

Dem gängigen Glauben der Militärs muss ein Angreifer jedoch mit einer vierfachen Übermacht vorstossen, um Verteidiger effektiv bekämpfen zu können: Der Kreml hat in dieser Hinsicht also bei Weitem nicht genug Kräfte, um die stark eingegrabenen Ukrainer zurückzudrängen. Und weil die Russen beim Grenzübertritt durchs Gelände nur langsam vorangekommen sind, spiele auch noch der Zeitfaktor gegen sie, so Reisner.

Analogie zur Schlacht von Kursk

«Man erkennt, dass die ukrainischen Kräfte die letzten Jahre genutzt haben, um sich massiv einzugraben», erläutert der Leiter der Entwicklungsabteilung der Militärakademie. Um verstärkte Stellungen der Ukrainer angreifen zu können, brauche Russland aber die entsprechende Aufklärung, um die eigene Artillerie leiten zu können. 

Und nun zu den Thesen des Österreichers, die nach den anfänglichen Ausführungen gut nachvollziehbar sind. Die erste lautet: Die Ukraine schlägt Russland gerade ausgerechnet mit einer Taktik aus Sowjetzeiten. Reisner verweist dabei auf die grösste Panzerschlacht der Geschichte, die ebenfalls im Raum von Charkiw stattgefunden hat: den Kampf von Kursk.

1943 hat Nazi-Deutschland mit dem Unternehmen Zitadelle versucht, in der letzten Grossoffensive des Reichs mit massiven Panzerverbänden vorzustossen, um die Rote Armee einzukesseln und aufzureiben. Das Problem: Die Verteidiger hatten genug Zeit zur Vorbereitung – sie hatten die bessere Aufklärung, verstärkten die Flanken und gruben sich dort ein.

Ein Stellungskrieg wie «Verdun 1916»

Hinzu komme «die Verbissenheit» der Russen, was gesamthaft dazu geführt habe, dass diese 1943 zwar deutlich höhere Verluste erlitten, die Umklammerung aber misslang und die Wehrmacht den Angriff nach elf Tagen abblasen musste.

Nun wiederhole sich diese Geschichte mit umgekehrten Vorzeichen im Donbass: Auch die Ukraine habe die Flanken aufgerüstet und entziehe sich so 2022 einer russischen Einkreisung.

Die Schlacht von Kursk 1943 und die Front 2022: «Jahrelange Vorbereitung in Erwartung des russischen Angriffs» lässt Putins Soldaten auflaufen.
Die Schlacht von Kursk 1943 und die Front 2022: «Jahrelange Vorbereitung in Erwartung des russischen Angriffs» lässt Putins Soldaten auflaufen.
Screenshot:  YouTube/ÖsterreichsBundesheer

Reisners zweite These lautet: Es droht jetzt ein Stellungskrieg, von dem man geglaubt habe, er sei mit Ende des Ersten Weltkriegs Geschichte. Dazu zeigt der Oberst Standbilder aus Drohnenvideos, auf denen die Frontgräben gut zu erkennen sind. Moskau versucht, diese Linie durch steigenden Artillerieeinsatz zu durchbrechen.

Der Schützengraben im Donbass mit den Stellungen ukrainischer Soldaten (gelb eingekreist) und Explosionen von Artilleriegeschossen (rot).
Der Schützengraben im Donbass mit den Stellungen ukrainischer Soldaten (gelb eingekreist) und Explosionen von Artilleriegeschossen (rot).
Screenshot: YouTube/ÖsterreichsBundesheer

«Die Schützengraben-Linie zieht sich von Nord nach Süd», zeigt er auf. Es sei wie «Verdun 1916»: «Die ukrainische Seite versucht, die Russen so abzunützen, dass dieser Angriff nicht mehr möglich ist.» Moskau versucht, an dieser Stelle seine Schlagkraft durch den Einsatz von Russlands gefährlichster konventioneller Waffe, dem Flammenwerfer Tos-1, und der Belagerungsartillerie 2S7 Pion zu erhöhen, die 203-Millimeter-Geschosse abfeuert.

Auf den Aufnahmen sind die Soldaten im Schützengraben sogar einzeln zu erkennen.
Auf den Aufnahmen sind die Soldaten im Schützengraben sogar einzeln zu erkennen.
Screenshot:  YouTube/ÖsterreichsBundesheer

Luftabwehr und Artillerie

Doch obwohl Russland als die Armee gilt, die die stärkste Artillerie hat, kann Kiew gelassen in die militärische Zukunft gucken: Der Westen rüstet die Ukraine derzeit vor allem mit Artillerie- und Flugabwehr-Systemen aus, von denen viele bereits im Land sind. Letztere sind essenziell, um etwa mit dem deutschen Gepard russische Luftunterstützung an der Front und in der Tiefe zu unterbinden und Aufklärungsdrohnen abzuschiessen.

In Sachen Artillerie geht der Westen in die Vollen. 40 ukrainische Soldaten sind gerade in Deutschland eingetroffen, um die Handhabung der Panzerhaubitze 2000 zu erlernen, von der sieben aus Deutschland und fünf aus den Niederlanden geliefert werden sollen. Der Vorteil des hochgelobten Systems: Es kann mehrere Geschosse hintereinander verschiessen, die dann aber gleichzeitig einschlagen, um den Gegner nicht vorzuwarnen.

Franzosen mit Caesar beim Flughafen Bagram in Afghanistan 2009: Die Artillerie schiesst von allen aus dem Westen gelieferten Systemen am weitesten.
Franzosen mit Caesar beim Flughafen Bagram in Afghanistan 2009: Die Artillerie schiesst von allen aus dem Westen gelieferten Systemen am weitesten.
Bild: Teddy Wade, U.S. Army

Sie verschiesst ebenso 155-Millimeter-Munition wie die Panzerhaubitzen M109A3GN Paladin aus den USA. Norwegen schickt 20 Exemplare. Frankreich wird im Mai zehn bis zwölf Caesar liefern, die die gleichen Geschosse verschiessen. Mehr als 40 weitere selbstfahrende Systeme sind ausserdem aus Tschechien und Polen eingetroffen: Sie setzen auf 152-Millimeter-Rohre, deren Munition aus Osteuropa kommt.

Auch wenn es um gezogene Geschütze geht, kann sich die Waffenhilfe sehen lassen. An den 90 amerikanischen M777 wird bereits innerhalb der Ukraine trainiert. Australien steuert weitere sechs und Kanada vier weitere M777 bei, die wie die fünf M114A1-Geschütze auf das Format 155 Millimeter setzen. Abgerundet wird das Ganze von neun D-30 aus Estland, die 122-Millimeter-Munition verschiessen.

Amerikanische Helikopter vom Typ Chinook transportieren nahe Kabul M777-Geschütze, deren Vorteil ihr geringes Gewicht ist, während sie dennoch 155-Millimeter-Munition verschiesst.
Amerikanische Helikopter vom Typ Chinook transportieren nahe Kabul M777-Geschütze, deren Vorteil ihr geringes Gewicht ist, während sie dennoch 155-Millimeter-Munition verschiesst.
Archivbild: KEYSTONE