Afghanistan und Haiti Die bitteren Folgen von Besatzung und Korruption

Von Niko Price, AP

21.8.2021 - 21:37

Gestrandete Menschen, die die Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan überqueren. 
Gestrandete Menschen, die die Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan überqueren. 
Jafar Khan/AP/dpa

Dem Anschein nach haben die Tragödien in Afghanistan und Haiti wenig miteinander zu tun. Doch beide treffen Menschen, die zu den ärmsten gehören – und wurzeln in ähnlichen Übeln. Eine Analyse.

Von Niko Price, AP

Zwei Tragödien in gegenüberliegenden Teilen der Welt bringen neues Elend über Menschen, die ohnehin schon zu den Ärmsten der Armen gehören. In Afghanistan übernahmen brutale Islamisten nach 20 Jahren wieder die Macht, nachdem westliche und einheimische Anführer mit einem traurigen Schulterzucken das Land verlassen haben. In Haiti trafen ein erneutes Erdbeben und ein weiterer Wirbelsturm ein längst schwer gebeuteltes Land.

Oberflächlich betrachtet verbindet die beiden Katastrophen wenig. Eine kann leicht auf die Geopolitik und einen aussichtslosen Krieg zurückgeführt werden, die andere auf Bewegungen der Erdkruste und Troposphäre. Dennoch stehen beide in engem Zusammenhang: Sie spielen sich in Ländern ab, die an den Spannungslinien all dessen liegen, was die Welt des 21. Jahrhunderts zu kontrollieren versucht.

Wieder trifft es die Ärmsten

Wieder einmal werden Menschen, die zu den weniger begünstigten auf der Erde gehören, noch tiefer ins Elend gezogen. Und ob der Auslöser nun ein Krieg oder das Wetter ist – das Leid an beiden Orten wurzelt in zwei allzu menschlichen Syndromen: Armut und Korruption.

Das ist kein Zufall. Sowohl Afghanistan als auch Haiti waren für weite Teile ihrer Geschichte von westlichen Mächten besetzt, und beide litten unter korrupten Regierungen, die von westlichen Nationen aus Eigennutz unterstützt wurden. Für die USA gilt das sogar in beiden Fällen.

Haiti leidet wie Afghanistan unter Korruption und langer Besatzung in der Vergangenheit. Ausserdem wird das Land von schweren Naturkatastrophen heimgesucht.
Haiti leidet wie Afghanistan unter Korruption und langer Besatzung in der Vergangenheit. Ausserdem wird das Land von schweren Naturkatastrophen heimgesucht.
Fernando Llano/AP/dpa

Und so gern der Westen die Tatsache ignorieren würde: Beide Länder sind Opfer von Machtdynamiken und schonungsloser Habgier. Der Umstand, dass keines von ihnen über eine funktionierende Regierung verfügt, die in der Not helfen könnte, ist eine direkte Konsequenz des Strebens anderer Staaten nach Geld und Einfluss.

Warnsignal für eine geplagte Welt

Dieses Dilemma sollte ein Warnsignal sein in einer von Extremwetter, Virusinfektionen, religiöser Intoleranz und politischem Opportunismus geplagten Welt. Der Zugang zu Essen, Wasser, Medikamenten und Bildung ist fundamental ungleich verteilt. Das führt dazu, dass Menschen, die das Pech haben, ohne Privilegien geboren zu sein, wenig Möglichkeiten haben, an ihrem Platz in der Welt etwas zu ändern.

Haiti verkörpert das ebenso wie Afghanistan. Die Verletzlichsten sind normalerweise die ersten, die Schaden nehmen. Und das ist gerade in beiden Ländern schmerzlich zu beobachten.



Für Afghanistan ging es in den vergangenen 50 Jahren abwärts: beim Einmarsch der Sowjetunion 1979, bei der Ankunft der Taliban 1996, bei deren Vertreibung durch die US-geführte Koalition 2001 und ihrer Rückkehr vor wenigen Tagen. Haiti ertrug von 1915 an eine 20-jährige amerikanische Besatzung und seitdem überwiegend US-gestützte Diktatoren. Heute leidet der Inselstaat unter bitterer Armut, politischem Chaos und Naturkatastrophen, darunter einem verheerenden Erdbeben im Jahr 2010.

Kann an diesen tief eingekerbten Pfaden etwas geändert werden? Gibt es eine Chance, dass Menschen an Orten wie Afghanistan und Haiti einen anderen Weg finden? Viele vor Ort bezweifeln das.

Kaum Hoffnung

Auf Hoffnung stösst man in beiden Ländern kaum. Neue Katastrophen scheinen bei den Menschen den Mangel an Vertrauen, dass sich die Dinge für sie eines Tages zum Besseren wenden könnten, zu bestätigen. 2002, nach den Terroranschlägen vom 11. September in den USA, traf ich in Afghanistan die zwölfjährige Hamida. Sie suchte am Strassenrand nach Essen für ihre zehnköpfige Familie. «Unter den Taliban, unter der neuen Regierung, ist alles gleich», flüsterte sie und versteckte ihr Gesicht hinter einem schmutzigen Schal. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich jemals etwas ändern wird.»

In Haiti sprach ich nach einem katastrophalen Hurrikan, der weite Teile des Landes zerstört hatte, 1998 mit einem hoffnungslosen jungen Mann in einer Notunterkunft. «Nach dem Aufwachen schütte ich mir jeden Morgen Wasser ins Gesicht», sagte der 24 Jahre alte Fritzner Midil. «Ich schaue in den Spiegel und sehe nichts.»

Damals fand ich Hamidas Resignation und Midils Mutlosigkeit schwer zu ertragen. Sicher würde sich ihre Situation nur zum Besseren entwickeln, dachte ich. Zwei Jahrzehnte später hat Haiti weitere Hurrikane, Erdbeben und weitere US-Interventionen erlitten. Die Taliban sind triumphierend wieder in die afghanische Hauptstadt Kabul eingezogen.

Ich frage mich, was Hamida und Midil über die Entwicklungen denken. Ich frage mich, ob Hamida zur Schule gehen konnte, eine Familie gegründet und sich eine Existenz aufgebaut hat. Und Midil? Ich frage mich, was er heute im Spiegel sieht.