Weitere Niederlage für Putin Russen lassen Armenier im Stich, diese wenden sich an die USA

Von Philipp Dahm

11.9.2023

Armenien warnt vor neuem Krieg mit Aserbaidschan

Armenien warnt vor neuem Krieg mit Aserbaidschan

Der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan hält einen weiteren Krieg seines Landes gegen Aserbaidschan für «sehr wahrscheinlich». Im Interview mit der Nachrichtenagentur AFP beschuldigte er Aserbaidschan zudem des «Völkermords» an Armeniern

22.07.2023

Während sich die humanitäre Lage in Bergkarabach wegen einer Blockade Aserbaidschans immer mehr zuspitzt, bereut Armeniens Premier, sich so eng an Russland gebunden zu haben. Das soll sich nun ändern.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • «Strategischer Fehler»: Armeniens Premier bereut, dass sich sein Land in Sachen Sicherheit so eng an Russland gebunden hat.
  • Der Grund: Russische Friedenstruppen verhindern nicht, dass Aserbaidschan den einzigen Korridor blockiert, der Armenien mit der Exklave Bergkarabach verbindet.
  • Armenien distanziert sich nun nicht nur von Moskau, sondern hält auch eine Übung mit der US-Armee ab.
  • In Bergkarabach ist wegen der monatelangen Blockade die Not riesengross. Eine erste Person soll verhungert sein.

Der armenische Premierminister ist ernüchtert. «Heute sehen wir, dass Russland selbst Waffen, Ausrüstung und Munition braucht», sagt Nikol Paschinjan der italienischen Zeitung «La Repubblica», «und in dieser Situation ist es verständlich, dass die Russische Föderation, Russland, selbst wenn sie wollte, Armenien Sicherheitsanforderungen nicht erfüllen kann.»

Paschinjan, der Armenien mit einer absoluten Mehrheit regiert, erklärt, dass «die armenische Sicherheitsarchitektur zu 99,999 Prozent auf Russland ausgerichtet» gewesen sei. Das räche sich nun, da Moskau wegen des Krieges in der Ukraine unter Druck steht. Der 48-Jährige wird deutlich:

«Unsere Abhängigkeit von Russland in Sachen Sicherheit war ein strategischer Fehler.»

Nikol Paschinjan

Armenischer Premier

Der frühere Journalist lässt seinen Worten auch Taten folgen. Im Januar sagt Paschinjan die Teilnahme am Manöver der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ab. In dem Sicherheitsbündnis ist neben Russland auch Aserbaidschan Mitglied – also das Land, das Eriwans Sicherheitsanforderungen zuletzt so stark ansteigen liess.

Weil die Organisation die aserbaidschanischen Winkelzüge in Nagorno-Karabach nicht verurteilt und der Kreml tatenlos zusieht, obwohl dessen Friedenstruppen die Einhaltung vertraglicher Pflichten übersehen sollen, bleibt Armenien auch gar nichts anderes übrig, als sich umzuorientieren. Und die Neuausrichtung geht plötzlich sehr schnell voran: Im Mai droht Eriwan, aus der OVKS auszutreten.

Armenische Polizisten im Latschin-Korridor.
Armenische Polizisten im Latschin-Korridor.
Bild: Imago/Itar-Tass/Sipa USA

Anfang Juni distanziert sich der Premier wegen Putins Krieg vom Kreml. «In seinem Krieg gegen die Ukraine sind wir kein Verbündeter Russlands», sagt er der tschechischen Ausgabe von CNN. Und nun geht Armenien noch einen Schritt weiter und macht gemeinsame Sache mit Moskaus altem Erzfeind.

Armenien trainiert mit der US-Armee

Vom 11. bis zum 20. September wird das Land ein Manöver mit den USA abhalten. Ziel der Übung Eagle Partner 2023 ist es, armenische Soldaten für Friedenseinsätze auszubilden, teilt das Verteidigungsministerium mit. Das Pentagon ergänzt, am Training würden 85 amerikanische und 175 armenische Soldaten teilnehmen. Schwere Waffen seien nicht beteiligt.

Obwohl sich die Grösse der Übung in Grenzen hält, reagiert der Kreml empfindlich: «Natürlich bereiten einem solche Neuigkeiten Sorgen», antwortet Dmitry Peskow auf entsprechende Fragen. Man werde den Vorgang genau beobachten. Russland unterhält nahe der zweitgrössten armenischen Stadt Gjumri eine Basis mit rund 3000 Kräften.

Peskow kommentiert auch Paschinjans «La Repubblica»-Interview: «Russland ist ein absolut integraler Teil dieser Region», sagt er mit Blick auf den Kaukasus. «Russland spielt eine beständige, sehr wichtige Rolle bei der Stabilisierung der Situation in dieser Region – und es wird diese Rolle weiterhin spielen.» Ist das ein Versprechen, eine Drohung oder gar beides?

120’000 Menschen hungern

Armeniens Frustration ist nachvollziehbar: Die Russische Föderation soll mit Truppen die Einhaltung des Friedens von 2020 überwachen. Der sieht vor, dass Eriwan sein exterritoriales Gebiet in Bergkarabach alias Nagorny Karabach mit 120’00 Menschen über den Latschin-Korridor versorgen darf.

Doch seit Dezember 2022 wird die Versorgung immer wieder gestört. Mal sind es selbst erklärte aserbaidschanische Umweltschützer, die den Verkehr blockieren, mal sind es Soldaten Bakus, die in dem Korridor auch immer wieder armenische Staatsbürger verhaften. Aserbaidschan hat dem Gebiet das Gas abgedreht und auch Checkpoints im Latschin-Korridor errichtet.

Weil die Blockade Bergkarabachs schon Monate anhält, lebt die Bevölkerung in prekären Verhältnissen. Die ärztliche Versorgung ist ebenso zusammengebrochen wie die mit Nahrungsmitteln oder Energie. «Wir hungern uns zu Tode», sagt Gegham Stepanyan, der Ombudsmann der Region, zu CNN.

Mutter zahlt für Babynahrung «jeden Preis»

Weil der Sprit so knapp ist, können Krankenwagen nur noch eingeschränkt fahren. Brot ist rationiert, berichtet «The Economist»: Pro Familie gibt es täglich nur eine Scheibe. Eine junge Mutter postet auf Social Media ein Foto von Babynahrung und schreibt: «Ich zahle dafür jeden Preis.» Am 15. August soll der erste Mensch in Bergkarabach verhungert sein.

Im August haben die Vereinten Nationen Aserbaidschan gebeten, die Blockade zu beenden. Vergeblich. Nikol Paschinjan sieht dahinter ein Kalkül: Er wirft dem Nachbarland Völkermord vor. Ins selbe Horn stösst Serj Tankian, der armenische Sänger der US-Band System of a Down.

Er äusserte sich in einem BBC-Interview, für das sich der britische Sender nun bei Aserbaidschan entschuldigen soll, wenn er nicht die Akkreditierung verlieren will. Tankian fordert darin die Entsendung von UN-Blauhelmen, damit diese den Genozid stoppen, der im Gange sei. Der 56-Jährige kontert Bakus Begehren so: «Wenn völkermordende Diktaturen sauer wegen etwas sind, was du getan hast, weisst du, dass du das Richtige getan hast.»